Engelsstimme
würden. Erlendur ergriff ihre Hand und versuchte zu lächeln. Er wusste, dass dieser Pakt früher oder später gebrochen werden würde. Viel zu viele Fragen, dachte er. Zu wenig wirkliche Antworten. Er war nicht bereit, sie gleich gehen zu lassen, und glaubte zu wissen, dass sie immer noch log oder zumindest einen Bogen um die Wahrheit machte.
»Du bist dann einige Tage vor dem Tod deines Bruders nicht ins Hotel gekommen, um deinen Bruder zu treffen?«, fragte er.
»Nein, ich war hier im Speisesaal mit einer Freundin verabredet. Wir haben einen Kaffee zusammen getrunken. Du kannst dich mit ihr in Verbindung setzen und sie fragen, ob ich dir etwas vorlüge. Ich hatte wieder vergessen, dass er hier arbeitete, und ich habe ihn nicht gesehen, während ich hier war.«
»Ich werde das vielleicht überprüfen«, entgegnete Erlendur und schrieb sich den Namen der Frau auf. »Dann noch etwas: Hast du einen Mann mit Namen Henry Wapshott gekannt? Er ist Engländer und hatte Verbindung zu deinem Bruder.«
»Wapshott?«
»Er sammelt Schallplatten und war an den Platten deines Bruders interessiert. Zufälligerweise sammelte er Chorgesang, und er ist auf Chorknaben spezialisiert.«
»Ich habe nie von diesem Mann gehört«, erklärte Stefanía. »Auf Chorknaben spezialisiert?«
»Es gibt wohl noch spleenigere Sammler als ihn«, sagte Erlendur, hielt es aber nicht für ratsam, auf die Kotztüten von Fluggesellschaften einzugehen. »Er ist der Meinung, dass die Platten deines Bruders heutzutage sehr wertvoll sind, weißt du etwas darüber?«
»Nein, keine Ahnung«, erklärte Stefanía. »Was meinte er damit? Was bedeutet das?«
»Ich bin mir da nicht ganz sicher«, sagte Erlendur. »Auf jeden Fall sind sie wertvoll genug, dass Wapshott extra nach Island kommt, um ihn zu treffen. Hat Guðlaugur Platten von sich besessen?«
»Das glaube ich nicht.«
»Weißt du, was aus den Exemplaren geworden ist, die damals produziert wurden?«
»Ich glaube, die sind einfach verkauft worden«, sagte Stefanía. »Wären sie wertvoll, wenn es noch welche gäbe?«
Erlendur hörte den Eifer aus ihrer Stimme heraus. Er überlegte, ob sie ihm da nicht womöglich wieder etwas vormachte und in Wirklichkeit viel besser Bescheid wusste als er selber und nur herauszufinden versuchte, wie viel er wusste.
»Könnte schon sein«, sagte Erlendur.
»Ist dieser Engländer im Lande?«, fragte sie.
»Er sitzt derzeit bei uns ein«, erwiderte Erlendur. »Es könnte sein, dass er mehr über deinen Bruder und dessen Tod weiß, als er uns sagen will.«
»Glaubt ihr, dass er ihn umgebracht hat?«
»Hast du keine Nachrichten gehört?«
»Nein.«
»Er kommt infrage, weiter nichts.«
»Was für ein Mann ist das?«
Erlendur erwog kurz, ihr zu sagen, was sie von den Kollegen in England erfahren hatten, von den Kinderpornos auf Wapshotts Zimmer, ließ es aber dann bleiben. Er wiederholte nur, was er ihr schon über ihn als Plattensammler mit Chorknaben als Spezialgebiet gesagte hatte, und dass er im Hotel übernachtet und mit Guðlaugur in Verbindung gestanden hatte. Es lägen genügend Verdachtsmomente vor, um ihn festzuhalten.
Sie verabschiedeten sich in aller Freundlichkeit, und Erlendur schaute ihr nach, während sie den Speisesaal durchquerte und in das Foyer ging. Gleichzeitig begann sein Handy zu klingeln. Er zog es aus der Tasche und nahm das Gespräch entgegen. Zu seinem großen Erstaunen war Valgerður am Telefon.
»Können wir uns heute Abend treffen?«, sagte sie ohne Umschweife. »Bist du dann im Hotel?«
»Das kann ich einrichten«, sagte Erlendur und konnte seine Verwunderung nicht verhehlen. »Ich habe geglaubt, dass …«
»Sagen wir gegen acht? In der Bar?«
»In Ordnung«, sagte Erlendur. »Abgemacht. Was …?«
Er wollte Valgerður fragen, was ihr auf dem Herzen läge, aber sie hatte schon aufgelegt und an sein Ohr drang nur noch Schweigen. Er stellte das Telefon ab und überlegte, was wohl der Grund für ihre Verabredung sein konnte. Er hatte die Möglichkeit abgeschrieben, diese Frau näher kennen zu lernen, und war zu dem Schluss gekommen, dass er wahrscheinlich in Sachen Frauen ein hoffnungsloser Fall wäre. Und jetzt auf einmal dieser Anruf, von dem er nicht so recht wusste, wie er ihn interpretieren sollte.
Die Mittagszeit war schon längst vorbei, und Erlendur war völlig ausgehungert, aber anstatt sich im Speisesaal etwas zu bestellen, nahm er den Aufzug hoch zu seinem Zimmer und ließ sich vom Zimmerservice einen
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