Englische Liebschaften (Nancy Mitford - Meisterwerke neu aufgelegt) (German Edition)
Ausbildung als Krankenschwester und Sozialarbeiterin gemacht, hatte Kurse in Jura und Volkswirtschaftslehre absolviert, und fast sah es so aus, darüber war sich Linda im Klaren, als hätte sie alles dies in der ausdrücklichen Absicht getan, eine geeignete Lebensgefährtin für Christian zu werden. Die Folge davon war in der gegenwärtigen Umgebung, dass sie mit ihrem selbstsicheren Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten die arme Linda einfach in den Schatten stellte. Da gab es keine Konkurrenz, es war ein Sieg ohne Kampf.
Linda entdeckte die Liebe der beiden nicht direkt, auf irgendeine gemeine Art und Weise – überraschte sie nicht bei einem Kuss oder im Bett. Es war viel subtiler und viel gefährlicher – von Woche zu Woche wurde ihr einfach immer klarer, dass sie miteinander vollkommen glücklich waren und dass sich Christian allen Zuspruch und alle Ermutigung für seine Arbeit bei Lavender holte. Da diese Arbeit ihn nun mit Herz und Seele gefangennahm, da er an nichts anderes dachte und sich nie auch nur einen Augenblick entspannte, bedeutete diese Abhängigkeit von Lavender zugleich eine völlige Ausschließung von Linda. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie konnte sich nicht mit Christian aussprechen; es gab nichts Greifbares, worüber man hätte sprechen können, und ein solches Vorgehen wäre Linda auch völlig fremd gewesen. Vor Szenen und Streitereien hatte sie mehr Angst als vor allem anderen, und sie machte sich keine Illusionen darüber, wie Christian von ihr dachte, Sie hatte das Gefühl, dass Christian sie wegen der leichtfertigen Art verachtete, in der sie Tony und ihr Kind verlassen hatte, und dass sie seiner Ansicht nach einer kindischen, oberflächlichen Anschauung vom Leben huldigte. Er schätzte ernsthafte, gebildete Frauen, vor allem solche, die Sozialarbeit studiert hatten, vor allem Lavender. Sie verspürte nicht den Wunsch, sich das alles von ihm sagen zu lassen. Stattdessen kam ihr der Gedanke, es sei vielleicht nicht falsch, Perpignan von sich aus zu verlassen, bevor Christian und Lavender, was sie für höchst wahrscheinlich hielt, gemeinsam von hier aufbrachen, um Hand in Hand nach neuen Stätten menschlichen Elends zu suchen und dort die Not zu lindern. Es war ihr schon peinlich, wenn sie mit Robert und Randolph zusammen war, denen sie offenbar sehr leid tat und die sie mit irgendwelchen kleinen Manövern davon ablenken wollten, dass Christian jede Minute des Tages mit Lavender verbrachte.
Eines Nachmittags stand sie müßig am Fenster ihres Hotelzimmers und sah, wie die beiden zusammen den Quai Sadi Carnot entlanggingen, ohne Augen für das, was um sie herum war, völlig zufrieden miteinander und vor Glück strahlend. Da durchzuckte Linda eine plötzliche Regung, und sie gab ihr nach. Sie packte ihre Sachen und schrieb Christian einen hastigen Brief, sie werde ihn für immer verlassen, da sie erkannt habe, dass ihre Ehe gescheitert sei. Sie bat ihn, sich um Matt zu kümmern. Dann verbrannte sie ihre Schiffe hinter sich, indem sie ein Postskriptum anfügte (eine verhängnisvolle Angewohnheit von Frauen): »Ich glaube, du solltest Lavender heiraten.« Schließlich zwängte sie sich und ihr Gepäck in ein Taxi und nahm den Nachtzug nach Paris.
Diesmal war die Fahrt grauenhaft. Linda hatte Christian ja doch sehr gern, und sobald der Zug den Bahnhof verlassen hatte, begann sie sich zu fragen, ob sie nicht dumm und falsch gehandelt hatte. Wahrscheinlich hatte er nur vorübergehend, der gemeinsamen Interessen wegen, Gefallen an Lavender gefunden, einer bloßen Laune nachgegeben, die vergehen würde, sobald er wieder in London war. Und vielleicht nicht einmal das, sondern es lag einfach daran, dass seine Arbeit ihn nötigte, die ganze Zeit über mit Lavender zusammen zu sein. Schließlich war die zerstreute Art, mit der er Linda behandelte, nichts Neues, die kannte sie, seit sie zu ihm gezogen war. Sie fing an zu bereuen, dass sie ihm diesen Brief geschrieben hatte.
Sie hatte ihre Rückfahrkarte, aber nur sehr wenig Geld, es reichte gerade, wie sie sich ausrechnete, für ein Abendessen im Zug und für ein paar Lebensmittel am nächsten Tag. Linda musste das französische Geld immer in Pfund, Shilling und Penny umrechnen, um zu wissen, was sie eigentlich besaß. Wie es schien, hatte sie jetzt achtzehn Shilling und sechs Pence bei sich, ein Schlafwagen kam also nicht infrage. Noch nie hatte sie eine ganze Nacht im Zug gesessen, und diese Erfahrung war entsetzlich für sie; es war,
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