Englische Liebschaften (Nancy Mitford - Meisterwerke neu aufgelegt) (German Edition)
vor allem sehnte sie sich nach ihrem eigenen Bett und kam sich vor wie ein verwundetes Tier, das sich in seinen Bau schleppt. Sie hatte nur den einen Wunsch, ungestört in ihrem eigenen Zimmer zu schlafen.
Aber als sie ihre Rückfahrkarte an der Gare du Nord vorzeigte, da erklärte ihr eine aufbrausende laute, unsympathische Stimme, sie sei ungültig.
»Voyons, madame – le 29 mai. C’est aujourd’hui le 30, n’est-ce pas? Donc –!« Gewaltiges Achselzucken.
Linda war vor Schreck gelähmt. Ihre achtzehn Shilling sechs Pence waren inzwischen auf sechs Shilling drei Pence zusammengeschmolzen, kaum genug für eine Mahlzeit. Sie kannte niemanden in Paris, sie wusste absolut nicht, was sie tun sollte, sie war zu müde und zu hungrig, um einen klaren Gedanken zu fassen. Sie stand da wie eine Statue der Verzweiflung. Ihr Träger, der keine Lust hatte, noch länger neben einer Statue der Verzweiflung auszuharren, stellte das Gepäck vor sie hin und ging murrend seiner Wege. Linda sank auf ihren Koffer und begann zu weinen; noch nie war ihr etwas so Furchtbares zugestoßen. Sie weinte bitterlich, sie konnte nicht mehr aufhören. Leute kamen und gingen vorüber, so als seien weinende Damen an der Gare du Nord eine ganz normale Erscheinung. »Teufel! Teufel!«, schluchzte sie. Warum hatte sie nicht auf ihren Vater gehört, warum war sie jemals in dieses unsäglich grauenhafte Ausland gekommen? Wer konnte ihr helfen? In London, das wusste sie, gab es einen Verein, der sich um Frauen kümmerte, die auf Bahnhöfen gestrandet waren; hier in Paris gab es wahrscheinlich eher einen Verein, der solche Frauen nach Südamerika verfrachtete. Jeden Augenblick konnte jemand auftauchen, vielleicht eine freundlich dreinblickende alte Frau, und ihr eine Spritze verabreichen, und dann würde sie für immer verschwinden.
Sie bemerkte, dass jemand neben ihr stand, keine alte Dame, sondern ein kleiner, untersetzter, sehr dunkelhaariger Franzose mit einem schwarzen Homburg. Er lachte. Linda beachtete ihn nicht, sondern weinte weiter. Je mehr sie weinte, desto mehr lachte er. Ihre Tränen waren jetzt Tränen der Wut und nicht mehr des Selbstmitleids.
Endlich sagte sie mit einer Stimme, die zornig und bestimmt klingen sollte, die aber nur als ein zitterndes Quietschen durch ihr Taschentuch drang: »Allez-vous en.«
Als Antwort ergriff er ihre Hand und zog Linda hoch. »Bonjour, bonjour«, sagte er.
»Voulez-vous vous en aller?«, sagte Linda, schon etwas weniger bestimmt, immerhin war hier ein menschliches Wesen, das ein gewisses Interesse an ihr zu erkennen gab. Dann fiel ihr Südamerika ein.
»II faut expliquer que je ne suis pas«, sagte sie, »une esclave blanche. Je suis la fille d’un très important lord anglais.«
Der Franzose brach in schallendes Gelächter aus. »Man braucht«, sagte er in dem früh vollendeten Englisch dessen, der diese Sprache seit seiner Kindheit spricht, »kein Sherlock Holmes zu sein, um das zu erraten.«
Linda ärgerte sich. Eine Engländerin im Ausland ist vielleicht stolz auf ihre Nationalität und auf ihren Stand, aber sie will nicht, dass diese Eigenschaften jedem so direkt ins Auge springen.
»Französische Damen«, fuhr er fort, »die mit les marques extérieurs de la richesse bedeckt sind, sitzen niemals frühmorgens auf ihren Koffern an der Gare du Nord und weinen, wohingegen esclaves blanches stets Beschützer haben, und dass Sie im Augenblick schutzlos sind, ist offensichtlich.«
Das klang einleuchtend, und Linda war besänftigt.
»Also denn«, sagte er, »ich lade Sie zum Luncheon ein, aber zuerst brauchen Sie ein Bad, etwas Ruhe und eine kalte Kompresse auf Ihrem Gesicht.«
Er nahm ihr Gepäck und ging auf ein Taxi zu. »Steigen Sie bitte ein.«
Linda stieg ein. Sie war sich zwar keineswegs sicher, dass dies nicht der kürzeste Weg nach Buenos Aires war, aber irgendetwas veranlasste sie, zu tun, was er ihr sagte. Ihre Widerstandskraft war am Ende, und sie sah wirklich keine andere Möglichkeit.
»Hôtel Montalembert«, sagte er zum Taxifahrer. »Rue du Bac. Je m’excuse, madame, dass ich Sie nicht zum Ritz bringe, aber es kommt mir so vor, als würde das Hôtel Montalembert gerade heute Morgen eher Ihrer Stimmung entsprechen.«
Linda saß kerzengerade in ihrer Ecke des Taxis und hoffte, sehr spröde zu wirken. Ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können, also schwieg sie. Ihr Begleiter summte eine kleine Melodie vor sich hin und schien ungemein amüsiert. Im Hotel nahm er ein
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