Englische Liebschaften (Nancy Mitford - Meisterwerke neu aufgelegt) (German Edition)
wie wenn man mit hohem Fieber krank zu Bett liegt und die qualvollen Stunden der Nacht lang und immer länger werden. Die Gedanken brachten ihr keinen Trost. Sie hatte das Leben, das sie während der letzten beiden Jahre geführt hatte, zerstört, hatte all das, was sie in die Beziehung zu Christian zu legen versucht hatte, wie ein zerknülltes Papier weggeworfen. Wenn das am Ende dabei herauskam – warum hatte sie dann Tony, der trotz allem ihr wirklicher Ehemann war, in guten wie in schlechten Zeiten, und das Kind überhaupt verlassen? Dort, bei ihnen, hatte ihre Pflicht gelegen, und sie wusste es. Sie dachte an meine Mutter und schauderte. Konnte es sein, dass sie, Linda, von nun an zu einem Leben verurteilt war, das sie ganz und gar verabscheute, zu dem Leben einer Hopse?
Und in London, was würde sie dort finden? Ein kleines, leeres, verstaubtes Haus. Vielleicht, so überlegte sie, würde Christian ihr folgen, vielleicht würde er kommen und darauf bestehen, dass sie zu ihm gehörte. Aber tief im Inneren wusste sie, dass er nicht kommen würde, dass sie ihm nicht gehörte und dass es zu Ende war. Christian war viel zu sehr davon überzeugt, dass man die Menschen in ihrem Leben das tun lassen muss, was sie wollen, ohne sich einzumischen. Er hatte Linda gern, das wusste sie, aber er war enttäuscht von ihr, das wusste sie auch; er hätte den ersten Schritt zur Trennung vielleicht nicht selbst getan, aber er würde es nicht sehr bedauern, dass sie ihn getan hatte. Bald würde er irgendein neues Projekt im Kopf haben, einen neuen Plan für notleidende Menschen, irgendwelche Menschen, irgendwo, ihre Zahl musste nur groß genug und ihr Leiden schwer genug sein. Dann würde er Linda und vielleicht auch Lavender vergessen, als hätte es sie nie gegeben. Christian lag nicht viel an Liebe und Leidenschaft, er hatte andere Interessen, andere Ziele, und es bedeutete wenig für ihn, mit welcher Frau er zusammenlebte. Aber tief in ihm gab es etwas Hartes, Unbarmherziges, das wusste sie. Sie glaubte auch zu wissen, dass er ihr das, was sie getan hatte, nie verzeihen würde; nie würde er versuchen, sie zu überreden, ihre Entscheidung zurückzunehmen, und es gab ja auch gar keinen Grund, warum er es hätte versuchen sollen.
Man konnte nicht behaupten, so überlegte Linda, während der Zug durch die Dunkelheit seinem Ziel entgegenstampfte, dass ihr bisheriges Leben besonders erfolgreich gewesen war. Sie hatte die große Liebe oder das große Glück weder gefunden, noch hatte sie es anderen geschenkt. Die Trennung von ihr war für ihre Ehegatten kein katastrophaler Schlag gewesen; im Gegenteil, beide konnten sich mit Erleichterung einer sehr viel mehr geschätzten Geliebten zuwenden, die in jeder Hinsicht besser zu ihnen passte. Worin immer die Eigenschaft bestehen mochte, die die Liebe und die Zuneigung eines Mannes für unbegrenzte Zeit zu erhalten vermag – sie, Linda, besaß diese Eigenschaft jedenfalls nicht, und nun war sie zu dem einsamen, gehetzten Leben einer schönen, aber ungebundenen Frau verurteilt. Wo war die Liebe jetzt, die bis ans Grab und weit darüber hinaus dauern würde? Was hatte sie mit ihrer Jugend angefangen? Tränen über ihre verlorenen Hoffnungen und Träume, Tränen des Selbstmitleids, liefen ihr jetzt über die Wangen. Die drei dicken Franzosen, die mit ihr im Abteil saßen, schnarchten vor sich hin, sie weinte allein.
So traurig und erschöpft Linda war, die Schönheit von Paris an diesem Sommermorgen, als sie quer durch die Stadt zur Gare du Nord fuhr, entging ihr dennoch nicht. Paris ist frühmorgens von einer fröhlichen Geschäftigkeit erfüllt, eine Verheißung bevorstehender Köstlichkeiten liegt in der Luft, und ganz unverkennbar duftet es nach Kaffee und Croissants.
Die Menschen begrüßen den neuen Tag, als wüssten sie schon, dass er ihnen Gutes bringen wird, in heiterer Erwartung guter Geschäfte ziehen die Ladenbesitzer die Rollläden hoch, die Arbeiter gehen fröhlich an die Arbeit, und die Leute, die die ganze Nacht in den Nachtklubs zugebracht haben, begeben sich fröhlich zur Ruhe, das Orchester der Autohupen, der rasselnden Straßenbahnen, der pfeifenden Polizisten stimmt die Instrumente zur täglichen Symphonie, und überall ist Freude. Diese Freude, dieses Leben, diese Schönheit passten so gar nicht zu Lindas Erschöpfung und ihrer Traurigkeit, sie spürte etwas davon, aber sie hatte keinen Anteil daran. Sie ließ ihre Gedanken nach dem alten, vertrauten London schweifen,
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