Englische Liebschaften (Nancy Mitford - Meisterwerke neu aufgelegt) (German Edition)
Ford-Lieferwagen voller Nahrungsmittel oder voller Flüchtlinge unterwegs oder erledigte Botendienste zwischen dem Büro und den Lagern. Oft musste sie stundenlang warten, während ein bestimmter Mann gesucht und sein Fall bearbeitet wurde, und bald bildete sich dann ein Kreis von Männern um sie, die sich in gebrochenem, kehligem Französisch mit ihr unterhielten. Inzwischen waren die Lager etwas besser organisiert; reinliche, wenn auch deprimierend wirkende Hütten waren in langen Reihen angeordnet, die Menschen bekamen regelmäßig ihre Mahlzeiten, die zwar nicht sonderlich schmackhaft waren, aber immerhin Leib und Seele zusammenhielten. Doch der Anblick Tausender junger, gesunder Menschen, die, hinter Drahtzäunen zusammengepfercht, von ihren Frauen ferngehalten wurden und untätig ihre Tage fristeten, war für Linda eine immerwährende Qual. Nach und nach gelangte sie zu der Ansicht, dass Onkel Matthew recht gehabt hatte – das Ausland, wo solche Dinge geschehen konnten, war tatsächlich einfach grauenhaft, und die Ausländer, die einander so etwas antaten, mussten wirklich Teufel sein.
Eines Tages, als sie wieder einmal so in ihrem Lieferwagen saß und wie üblich den Mittelpunkt einer Gruppe von Spaniern bildete, ertönte eine Stimme: »Linda, was in aller Welt machst du denn hier?«
Es war Matt.
Seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, schien er um zehn Jahre gealtert, richtig erwachsen und sehr hübsch, die Radlett-Augen tiefblau in einem dunkelbraunen Gesicht.
»Ich habe dich schon ein paarmal gesehen«, sagte er, »und ich dachte, sie hätten dich geschickt, um mich zu holen, also habe ich mich aus dem Staub gemacht, aber dann habe ich erfahren, dass du mit diesem Christian verheiratet bist. War er es, mit dem du Tony davongelaufen bist?«
»Ja«, sagte Linda, »ich hatte ja keine Ahnung. Ich glaubte, du seist schon längst wieder in England.«
»Ach nein«, entgegnete Matt. »Ich bin Offizier, verstehst du, ich muss bei meinen Jungs bleiben.«
»Weiß Mama, dass es dir gut geht?«
»Ja, ich habe ihr geschrieben – jedenfalls, wenn Christian meinen Brief aufgegeben hat.«
»Ich glaube nicht, dass er es getan hat – soviel ich weiß, hat er nie im Leben einen Brief aufgegeben. Er ist wirklich komisch, das hätte er mir doch erzählen können.«
»Er wusste nichts – als Deckadresse habe ich einen Freund von mir angegeben, der ihn weiterleiten sollte. Wollte nicht, dass die Engländer erfahren, dass ich hier bin, sonst würden sie versuchen, mich nach Hause zu schicken.«
»Christian nicht«, sagte Linda. »Nach seiner Meinung sollen die Leute das tun, was sie wollen. Du bist sehr dünn, Matt, brauchst du irgendetwas?«
»Ja, Zigaretten und ein paar Thriller.«
Danach traf sich Linda fast jeden Tag mit ihm. Sie erzählte Christian davon, der nur brummte: »Er muss hier weg, bevor der Krieg losgeht. Ich werde mich darum kümmern« – und sie schrieb an ihre Eltern. Das Ergebnis war ein Paket mit Kleidern von Tante Sadie, dessen Annahme Matt verweigerte, und ein Karton voll Vitamintabletten von Davey, die Linda ihm nicht einmal zu zeigen wagte. Er war fröhlich, immer zu Scherzen aufgelegt und gut gelaunt, aber es ist, wie Christian meinte, doch ein Unterschied, ob man sich irgendwo aufhält, weil man bleiben muss, oder weil man es für richtig hält. Aber wie auch immer, um froh zu sein, bedurfte es bei den Radletts wenig.
Die einzige andere frohe Aussicht war das Schiff. Es würde zwar nur wenige Tausend Flüchtlinge aus der Hölle befreien, nur einen Bruchteil all derer, die da waren, aber sie würden jedenfalls erlöst und in eine bessere Welt mit der Aussicht auf ein glückliches und nutzbringend angewendetes Leben gebracht werden.
Wenn sie nicht in ihrem Lieferwagen unterwegs war, arbeitete Linda mit aller Kraft an der Aufteilung der Kabinen, und schließlich hatte sie es rechtzeitig zur Einschiffung geschafft.
Alle Engländer fuhren an diesem großen Tag nach Sète, bei ihnen auch zwei Unterhausabgeordnete und eine Herzogin, die das Unternehmen in London gefördert hatten und nun gekommen waren, um die Frucht ihrer Arbeit zu sehen. Linda fuhr mit dem Bus nach Argelès, um Matt zu besuchen.
»Die spanische Oberklasse muss sehr komisch sein«, sagte sie, »die machen keinen Finger krumm, um den eigenen Leuten zu helfen, sondern überlassen alles Ausländern wie uns.«
»Du kennst die Faschisten nicht«, meinte Matt mit finsterer Miene.
»Der Gedanke kam mir gestern, als ich mit
Weitere Kostenlose Bücher