Enigma
hob sie leicht die Schultern und räumte ein: »Nun ja, vielleicht, es kann sein, daß ein unwichtiges Objekt ein oder zwei Tage vernachlässigt wird, wenn der Funkverkehr extrem stark ist. Aber Sie haben ja gesehen, wie groß Beaumanor ist. Und es ist nicht so groß wie die Horchstelle der Royal Air Force in Chicksands. Es muß noch ein Dutzend kleinerer Orte geben, vielleicht sogar mehr. Leute wie Sie sagen uns immer, daß das Entscheidende an der Sache sei, alles, einfach alles aufzufangen.«
Er nickte. Das stimmte. Das war von Anfang an ihre Philosophie gewesen. Seid gründlich. Laßt euch nichts entgehen. Es sind nicht die großen Jungs, die euch die Eselsbrücken bauen - die sind zu gut. Es sind die kleinen Lichter - die längst vergessenen, an abgelegenen Orten stationierten Leute ohne Kompetenz -, die ihre Meldungen immer mit »Lage normal, nichts zu berichten« beginnen und dann die gleichen Nullen immer an derselben Stelle verwenden oder aus purer Gewohnheit ihre eigenen Rufzeichen verschlüsseln oder die Walzen jeden Morgen auf die Initialen ihrer Freundin einstellen…
Jericho sagte: »Also hätte er die Anweisung, das Auffangen zu stoppen, nicht von sich aus gegeben?«
»Miles? Großer Gott, nein.«
»Wer erteilt ihm seine Befehle?«
»Das ist unterschiedlich. Gewöhnlich der Maschinenraum von Baracke 6. Gelegentlich die Wache in Baracke 3. Sie entscheidet über die Prioritäten.«
»Kann es sein, daß ihm ein Irrtum unterlaufen ist?«
»In welcher Hinsicht?«
»Nun, Heaviside sagte, daß Miles am 4. kurz vor Mitternacht ziemlich panisch in Beaumanor angerufen hat. Ich frage mich folgendes: Was ist, wenn Miles früher am Tage gesagt worden ist, daß Meldungen dieser Einheit nicht mehr aufgefangen werden sollen, er aber vergessen hat, das weiterzuleiten?«
»Durchaus möglich. Sogar wahrscheinlich, wie ich Miles kenne. Ja, ja, natürlich.« Hester drehte sich zu ihm um. »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. In der Zeit zwischen der Anweisung an Miles, den Stöpsel herauszuziehen, und seinem Anruf in Beaumanor waren vier weitere Meldungen aufgefangen worden.«
»Stimmt haargenau. Die spät am Abend des 4. in Baracke 6 eintrafen. Aber inzwischen war bereits der Befehl ergangen, daß sie nicht entschlüsselt werden sollten.«
»Also sind sie einfach in die Mühlen der Bürokratie geraten und weiterbefördert worden.«
»Bis sie im German Book Room angelangt waren.«
»Auf Claires Schreibtisch.«
»Unentschlüsselt.«
Jericho nickte langsam. Unentschlüsselt. Das war der entscheidende Punkt. Das erklärte, weshalb die Funksprüche in Claires Schlafzimmer völlig unbeschädigt ausgesehen hatten. Auf ihre Rückseite waren nie irgendwelche Streifen aus den Typ-X-Maschinen geklebt worden. Sie waren nie entschlüsselt worden.
Er starrte in den Wald, aber er sah keine Bäume, er sah den German Book Room am Morgen des 5., nachdem die Kryptogramme eingetroffen waren, um registriert und in den Index aufgenommen zu werden.
Ob Miss Monk persönlich den Offizier vom Dienst in Barakke 6 angerufen hat? Oder hat sie eines ihrer Mädchen damit beauftragt? »Wir haben hier vier verwaiste Funksprüche, ohne Entschlüsselung. Was, bitte, sollen wir mit ihnen anfangen?« Und die Antwort darauf wäre gewesen - was? Wenn er das nur wüßte. Registriert sie? Vergeßt sie? Werft sie in den Behälter mit der Aufschrift »Vertraulicher Abfall«?
Nur war nichts von alledem passiert.
Statt dessen hatte Claire sie gestohlen.
Theoretisch? hatte Weitzman gesagt. An einem ganz gewöhnlichen Tag? Eine Frau wie Claire erfuhr vermutlich mehr über die Details von Operationen der deutschen Streitkräfte als Adolf Hitler. Absurd, nicht wahr?
Ja, aber man erwartete von ihnen, daß sie sie nicht lasen, Walter, das war der springende Punkt. Wohlerzogene junge Damen würden niemals auf die Idee kommen, die Post anderer Leute zu lesen, es sei denn, sie wurden angewiesen, es für König und Vaterland zu tun. Sie würden sie auf gar keinen Fall von sich aus lesen. Und genau aus diesem Grund hatte Bletchley sie eingestellt.
Aber was hatte Miss Monk über Claire gesagt? Sie war in letzter Zeit tatsächlich viel aufmerksamer… Natürlich war sie das gewesen. Sie hatte angefangen zu lesen, was durch ihre Hände ging. Und Ende Februar oder Anfang März hatte sie etwas gesehen, das ihr Leben verändert hatte. Etwas, das mit einer deutschen Nachrichteneinheit zu tun hatte, deren Funker der Gestapo den Morsecode vorspielte wie eine
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