Enigma
Sonate von Mozart. Etwas, das so gar nicht »langweilig, Darling« war, daß sie sich gezwungen gesehen hatte, als man in Bletchley beschloß, das weitere Abhören der Funksprüche zu stoppen, die letzten vier Funksprüche zu stehlen.
Und weshalb hatte sie sie gestohlen?
Er brauchte die Frage nicht einmal zu stellen. Hester war bereits vor ihm zu der Antwort gelangt, obwohl ihre Stimme schwach und ungläubig war und im Regen fast unterging. »Sie hat sie gestohlen, um sie zu lesen.«
Sie hat sie gestohlen, um sie zu lesen. Die Antwort paßte in das Zufallsmuster der Ereignisse und fügte sich ein wie ein Schlüssel.
Sie hatte die Kryptogramme gestohlen, um sie zu lesen.
»Aber ist das wirklich plausibel?« fragte Hester, offensichtlich bestürzt über den Schluß, zu dem ihr Nachdenken sie geführt hatte. »Ich meine, hätte sie das wirklich tun können?«
»Ja. Es ist möglich. Schwer vorstellbar, aber möglich.«
Oh, diese Unverfrorenheit, dachte Jericho. Oh, diese nackte, atemberaubende Unverfrorenheit, diese kalte Entschlossenheit, mit der sie das alles geplant haben muß. Claire, mein Liebling, du bist wahrhaftig ein Wunder…
»Aber allein hätte sie es nicht geschafft«, sagte er, »nicht, solange sie in Baracke 3 eingesperrt war. Sie hätte Hilfe gebraucht.«
»Wen?«
Er hob in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände vom Lenkrad. Er wußte nicht recht, wo er anfangen sollte. »Zum Beispiel jemand, der Zugang zu Baracke 6 hat. Jemand, der die Enigma-Einstellungen des deutschen Heeresschlüssels Vulture am 4. März feststellen konnte.«
»Die Einstellungen?«
Er sah sie verblüfft an, dann wurde ihm bewußt, daß das Funktionsschema einer Enigma nicht zu den Dingen gehörte, die sie für ihre Arbeit benötigte. Und in Bletchley war es so, daß einem das, was man nicht zu wissen brauchte, auch nicht mitgeteilt wurde.
»Walzenlage«, sagte er. »Ringstellung. Steckerverbindungen. Wenn Vulture jeden Tag entschlüsselt worden ist, dann war in Baracke 6 all das bereits bekannt.«
»Und was hätte man dann tun müssen?«
»Sich Zugang zu einer Maschine vom Typ X verschaffen. Sie auf genau die richtige Weise einstellen. Die Kryptogramme eintippen und den Klartext abreißen.«
»Hätte Claire das tun können?«
»Mit ziemlicher Sicherheit nicht. Man hätte ihr nicht gestattet, auch nur in die Nähe des Dechiffrierraums zu kommen. Und außerdem hatte sie nicht die erforderliche Ausbildung.«
»Also hätte ihr Komplize über bestimmte Fähigkeiten verfügen müssen.«
»Fähigkeiten, ja. Und Mut. Und außerdem Zeit. Vier Meldungen. Tausend Buchstabengruppen. Fünftausend einzelne Zeichen. Selbst ein erfahrener Maschinenbediener würde gut eine halbe Stunde brauchen, um so viel Text zu entschlüsseln. Es wäre machbar gewesen. Aber sie hätte einen Supermann gebraucht.«
»Oder eine Superfrau.«
»Nein.« Er erinnerte sich an die Ereignisse in der Samstagnacht: das Geräusch unten in ihrem Haus, die großen Abdrükke von Männerschuhen im Rauhreif, die Fahrradspuren und das rote Rücklicht des Fahrrads, das sich vor ihm in die Dunkelheit entfernte. »Nein. Es ist ein Mann.«
Wenn ich nur dreißig Sekunden schneller gewesen wäre, dachte er, dann hätte ich sein Gesicht gesehen.
Und dann dachte er: Ja, und vielleicht hätte ich dann meinerseits eine Kugel ins Gesicht bekommen, eine Kugel aus einem gestohlenen 38er Smith and Wesson, hergestellt in Springfield, Massachusetts.
Er spürte ein Prickeln von einem eiskalten Wassertropfen auf dem Handrücken und schaute hoch. Er verfolgte seine Flugbahn zu einer Stelle am Wagendach, direkt vor der Windschutzscheibe. Noch während er hinschaute, schwoll ein weiterer Tropfen Regenwasser langsam an, färbte sich dunkel rostfarben und fiel herunter.
Shark. Ihm wurde klar, daß er es fast vergessen hatte, und er hatte ein leichtes Schuldgefühl dabei.
»Wie spät ist es?«
»Fast fünf.«
»Wir sollten allmählich zurückfahren.«
Er rieb sich die Hand ab und griff nach dem Zündschlüssel.
Der Wagen wollte nicht anspringen. Jericho drehte den Zündschlüssel vor und zurück und trat immer wieder aufs Gas, aber alles, was er aus dem Motor herausholen konnte, war ein dumpfes Kurbelgeräusch.
»Oh, verdammt…«
Er schlug seinen Kragen hoch, stieg aus und ging nach hinten zum Kofferraum. Als er die Klappe öffnete, flogen hinter ihm zwei Tauben auf, wobei ihre Flügel knatterten wie Knallfrösche. Er fand eine Handkurbel unter dem Reservekanister und
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