Enigma
halten. Er hatte im Dunkeln an der Tür gestanden und eine Mischung aus Bier und Limonade getrunken, während Turing, Welshman und ein paar von den anderen großen Bossen in einem Zimmer oben zusammensaßen und einen Brief an Churchill schrieben. Genau die gleiche Geschichte: nicht genügend Mitarbeiter, nicht genügend Hilfskräfte, die Fabrik in Letchworth, in der früher Registrierkassen gebaut worden waren, hatte zuwenig Material, zuwenig Arbeitskräfte… Es hatte einen Riesenkrach gegeben, als Churchill den Brief erhielt - ein Wutanfall in der Downing Street, zerstörte Karrieren, ein Durchrütteln der Maschinerie -, und die Verhältnisse hatten sich gebessert, für einige Zeit. Aber Bletchley war ein gefräßiges Kind. Sein Appetit wuchs beim Essen. »Nervus belli«, wie Atwood damals gemurmelt hatte, pecunia infinita…« Oder, wie Baxter es prosaischer ausgedrückt hatte: Letzten Endes ist alles eine Sache des Geldes. Die Polen hatten Enigma an die Briten übergeben müssen. Jetzt würden die Briten mit den Yankees teilen müssen.
»Mit alledem will ich nichts zu schaffen haben. Ich brauche ein bißchen Schlaf. Danke fürs Mitnehmen.«
Er griff nach der Klinke, und diesmal versuchte Kramer nicht, ihn zurückzuhalten. Jericho war schon halb draußen, als Kramer sagte: »Ich habe gehört, Sie haben im vorigen Krieg Ihren Vater verloren.«
Jericho erstarrte. »Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Ich hab´s vergessen. Spielt es eine Rolle?«
»Nein. Es ist kein Geheimnis.« Jericho massierte seine Stirn. Er spürte, daß ein gemeines Kopfweh im Anzug war.
»Es ist vor meiner Geburt passiert. Er wurde bei Ypern von einer Granate getroffen. Er lebte noch eine Weile weiter, aber er war kaum noch zu etwas zu gebrauchen. Er ist nie mehr aus dem Hospital herausgekommen. Er ist gestorben, als ich sechs war.«
»Was hat er gemacht, bevor er getroffen wurde?«
»Er war Mathematiker.«
Es trat ein Moment Schweigen ein.
»Bis später«, sagte Jericho. Er stieg aus.
»Mein Bruder ist umgekommen«, sagte Kramer plötzlich.
»Er war einer der ersten. Er war in der Handelsmarine. Auf einem Liberty-Schiff.«
Natürlich, dachte Jericho.
»Und das ist passiert, während wir mit Shark im dunkeln tappten, nehme ich an?«
»So ist es.« Kramer schaute ins Leere, dann zwang er sich zu einem Lächeln. »Lassen Sie uns in Verbindung bleiben, Tom. Und wenn ich etwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen.«
Er streckte den Arm aus, zog an der Tür und ließ sie lautstark zuschlagen. Jericho stand allein am Straßenrand und sah zu, wie Kramer rasch wendete. Es gab eine Fehlzündung, dann jagte der Wagen den Hang hinauf in Richtung Park und hinterließ eine kleine Wolke aus schmutzigem Qualm in der Morgenluft.
III Beute
Beute: jedes vom Feind gestohlene kryptographische Material, das die Chancen vergrößert, seine Codes oder Chiffren zu knacken.
Ein Lexikon der Kryptographie
(»Streng geheim«, Bletchley Park, 1943)
1.
Bletchley war eine Eisenbahnstadt. Die Hauptstrecke von London nach Schottland spaltete sie in der Mitte, und die kleinere Strecke von Oxford nach Cambridge zerteilte sie in Viertel, so daß man den Zügen, wo immer man sich befand, nicht entkommen konnte: ihrem Lärm, dem Geruch nach Ruß, dem Anblick ihres über den Dächern hängenden braunen Rauchs. Sogar die meisten Reihenhäuser waren Eisenbahngebäude, aus denselben roten Ziegelsteinen erbaut wie der Bahnhof und die Lokschuppen, im gleichen öden Industriestil.
Das Gästehaus, Albion Street, war zu Fuß nur ungefähr fünf Minuten von Bletchley Park entfernt und grenzte mit der Rückfront an die Hauptstrecke. Seine Inhaberin, Mrs. Ethel Armstrong, hatte sehr viel Ähnlichkeit mit ihrem Etablissement, etwas über fünfzig Jahre alt, solide gebaut, eine einschüchternde, spätviktorianische Erscheinung. Ihr Mann war einen Monat nach Ausbruch des Krieges an einem Herzinfarkt gestorben, woraufhin sie ihr vierstöckiges Haus in eine kleine Pension umgewandelt hatte. Wie die anderen Bewohner der Stadt - es waren an die 7000 - hatte sie keine Ahnung, was auf dem Gelände des Herrenhauses ein Stück die Straße hinunter vor sich ging, und es interessierte sie auch nicht. Es war profitabel, das war alles, was für sie eine Rolle spielte. Sie verlangte achtunddreißig Schilling pro Woche und erwartete von ihren fünf Mietern, daß sie ihr als Ausgleich für ihre Mahlzeiten sämtliche Lebensmittelkarten aushändigten. Auf diese Art und Weise hatte
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