Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
der Hand übers Gesicht -, er hatte gerade acht Pfund, mehr als ein Wochengehalt für ein Zimmer ausgegeben, das er vielleicht gar nicht brauchte. Der Kleiderschrank wackelte, als er ihn öffnete, und die Drahtkleiderbügel erzeugten ein melancholisches Scheppern. Im Innern stank es nach Mottenkugeln. Er verstaute rasch die Kartons darin und schob die Koffer unters Bett. Dann schloß er die Vorhänge, legte sich auf die klumpige Matratze und zog die Decke bis zum Kinn hoch.
    Drei Jahre lang hatte Jericho ein Nachtleben geführt, war am Abend aufgestanden und bei Tagesanbruch zu Bett gegangen, aber er hatte sich nie daran gewöhnt. Jetzt, da er hier lag und den fernen Geräuschen eines Samstagvormittags lauschte, kam er sich vor wie ein Kranker. Unten ließ jemand ein Bad einlaufen. Der Wassertank befand sich auf dem Dachboden direkt über seinem Kopf, und der Lärm, mit dem er sich leerte und wieder vollief, war ohrenbetäubend. Er schloß die Augen, und das einzige, was er vor sich sah, war die Karte vom Nordatlantik. Er öffnete die Augen, und das Bett erbebte leicht, als ein Zug vorbeifuhr, und das erinnerte ihn an Claire. Der 15.06 von London Euston - »mit Halt in Willesden, Watford, Apsley, Berkhamstead, Tring, Chaddington und Leighton Buzzard, Ankunft Bletchley um vier Uhr neunzehn… « Er kannte die Ansage selbst jetzt noch auswendig, und er sah auch sie vor sich. Damals war er ihr zum erstenmal begegnet.
    Wann war das doch gleich gewesen? Eine Woche nach dem Eindringen in Shark? Auf jeden Fall ein paar Tage vor Weihnachten. Er und Logie, Puck und Atwood waren angewiesen worden, sich in dem Bürohaus am Broadway in der Nähe der U-Bahnstation St. James zu melden, von dem aus Bletchley Park geleitet wurde. »C« selbst hatte eine kleine Rede über die Bedeutung ihrer Arbeit gehalten.
    In Anbetracht ihres »entscheidenden Durchbruchs« und auf Anweisung des Premierministers hatten sie alle einen kräftigen Händedruck erhalten und einen Umschlag mit einem Scheck über 100 Pfund. Hinterher hatten sie sich, ein wenig verlegen, auf dem Gehsteig voneinander verabschiedet, und jeder war seines Weges gegangen - Logie zu einem Lunch in der Admiralität, Puck zu einer Verabredung mit einer Frau, Atwood zu einem Konzert in der National Portrait Gallery und Jericho zurück zum Bahnhof Euston, um den Zug nach Bletchley zu erreichen, »mit Halt in Willesden, Watford, Apsley…«
    Jetzt würde es keine Schecks mehr geben. Vielleicht würde Churchill sein Geld zurückverlangen.
    Eine Million Tonnen Frachtermaterial. Zehntausend Menschen. Sechsundvierzig U-Boote. Und das war nur der Anfang.
    »Es ist alles. Es ist der ganze Krieg.«
    Er drehte sein Gesicht zur Wand.
    Ein weiterer Zug fuhr vorbei, und dann noch einer. Jemand anders begann ein Bad einzulassen. Im Hinterhof, direkt unter seinem Fenster, begann Mrs. Armstrong den Wohnzimmerteppich, den sie über die Wäscheleine gehängt hatte, zu klopfen, hart und rhythmisch, als wäre er ein Gast, der mit seiner Miete im Rückstand war, oder ein schnüffelnder Inspektor vom Ernährungsministerium.
    Dunkelheit hüllte ihn ein.
    Der Traum ist eine Erinnerung, die Erinnerung ein Traum.
    Ein von Menschen wimmelnder Bahnsteig - Eisenträger und Tauben, die unter einem schmutzigen Glasdach herumschwirren. Über die Lautsprecheranlage tönen blecherne Weihnachtslieder. Kaltes Licht und viel Khaki.
    Eine Gruppe Soldaten, in Schräglage vom Gewicht ihrer Tornister, eilt zum Dienstwagen. Ein Matrose küßt eine schwangere Frau mit einem roten Hut und tätschelt ihren Hintern. Schulkinder, die über Weihnachten nach Hause fahren. Handelsvertreter in abgeschabten Mänteln. Zwei dünne und besorgte Mütter, beide in billigen Pelzen, eine hochgewachsene blonde Frau in einem gutgeschnittenen knöchellangen braunen Mantel - ein Vorkriegsmantel, denkt er, so etwas wird heutzutage nicht mehr hergestellt…
    Sie geht am Fenster vorbei, und ihm wird plötzlich klar, daß sie gemerkt hat, wie er sie anstarrt. Er wirft einen Blick auf seine Taschenuhr, klappt mit dem Daumen den Deckel zu, und als er wieder aufschaut, kommt sie tatsächlich in sein Abteil. Es ist voll besetzt. Sie zögert. Er steht auf, um ihr seinen Platz anzubieten. Sie bekundet mit einem Lächeln ihren Dank und gestikuliert, um anzudeuten, daß gerade genügend Raum vorhanden ist, um sich zwischen ihn und das Fenster zu zwängen. Er nickt und setzt sich unter Schwierigkeiten wieder hin.
    Über die ganze Länge des Zuges werden

Weitere Kostenlose Bücher