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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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aber keine Ahnung, wie. Auf dem Treppenabsatz hatte er sich soweit wieder gefaßt, daß er sich umdrehen und sagen konnte: »Das Zimmer ist sehr klein, man hat darin kaum Platz zum Sitzen.«
    »Das macht überhaupt nichts, mein Freund. Solange wir dort ungestört sind. Also vorwärts.«
    Jericho schaltete die schwache Lampe ein und trat zurück, um Wigram den Vortritt zu lassen. Als er an ihm vorbeiging, erhaschte er einen schwachen Duft von Eau de Cologne und Zigarren. Jerichos Blick wanderte direkt zu dem Bild der Chapel, das, wie er erleichtert feststellte, unangetastet aussah. Er schloß die Tür.
    »Jetzt verstehe ich, was Sie über das Zimmer sagten«, erklärte Wigram. Er legte die Hände an die Fensterscheibe und schaute hinaus. »Wir haben eine Menge durchzustehen, was? Und die Eisenbahn fährt hier auch vorbei.« Er schloß die Vorhänge und drehte sich zu Jericho um, wobei er sich mit fast weiblicher Zartheit die Hände mit einem Taschentuch säuberte. »Wir machen uns ziemliche Sorgen.« Sein Lächeln wurde breiter. »Wir machen uns ziemliche Sorgen um eine Frau namens Claire Romilly.« Er faltete das blaue Seidentuch zusammen und steckte es wieder in seine Brusttasche. »Darf ich mich setzen?«
    Er zog seinen Mantel aus und legte ihn aufs Bett, dann ordnete er seine Nadelstreifenhose über den Knien, um die Bügelfalte nicht zu zerknittern. Er setzte sich auf die Kante der Matratze und hüpfte einmal auf und ab, um sie zu prüfen. Sein Haar war blond, ebenso seine Augenbrauen, seine Wimpern, die Haare auf dem Rücken seiner gepflegten weißen Hände… Jericho spürte, wie seine Haut vor Angst und Abscheu kribbelte. Wigram klopfte auf das Federbett neben sich. »Lassen Sie uns reden.« Es schien ihm nicht das geringste auszumachen, daß Jericho stehenblieb. Er faltete lediglich gelassen die Hände im Schoß.
    »Also kommen wir zur Sache, ja? Claire Romilly. Zwanzig. Dienstgrad: Schreibkraft. Offiziell vermißt seit« - er schaute auf die Uhr - »zwölf Stunden. Heute morgen nicht zur Frühschicht erschienen. Wenn man genauer nachforscht, seit Freitag um Mitternacht nicht mehr gesehen - ach herrje, das ist ja schon fast zwei Tage her -, als sie nach der Arbeit den Park verließ. Die Frau, mit der sie zusammen wohnt, schwört, daß sie sie seit Donnerstag nicht mehr gesehen hat. Ihr Vater sagt, er habe sie zuletzt vor Weihnachten gesehen. Niemand scheint auch nur die blasseste Ahnung zu haben, nicht einmal die Mädchen, mit denen sie zusammenarbeitet. Verschwunden.« Wigram schnippte mit den Fingern. »Einfach so.« Zum ersten Mal war das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden. »Ziemlich gute Freundin von Ihnen, wie ich gehört habe?«
    »Ich habe sie seit Anfang Februar nicht mehr gesehen. Ist deshalb die Polizei draußen?«
    »Eine wie gute Freundin? Gut genug, daß Sie versucht haben, sie zu finden? Draußen in ihrem kleinen Haus, vorige Nacht, wie wir von unserer kleinen Miss Wallace wissen. Fragen, Fragen. Dann heute morgen in Baracke 3, wieder Fragen über Fragen. Anruf bei ihrem Vater… Oh ja«, sagte er, als er sah, wie verblüfft Jericho war, »er hat uns sofort benachrichtigt und uns gesagt, daß Sie angerufen haben. Sie haben Ed Romilly nie kennengelernt? Reizender Mensch. Ist nie das geworden, was er hätte werden können, heißt es. Hat nach dem Tod seiner Frau die Kurve nicht mehr gekriegt. Sagen Sie, Mister Jericho, weshalb dieses Interesse?«
    »Ich war einen Monat weg. Ich hatte sie lange nicht gesehen.«
    »Aber Sie haben doch bestimmt eine Menge wichtigerer Dinge zu tun, zumal im Augenblick, als alte Bekanntschaften zu erneuern?«
    Seine letzten Worte gingen im Vorbeidonnern eines Expreßzuges unter. Das Zimmer bebte fünfzehn Sekunden lang, und genauso lange lächelte er. Als der Lärm vorüber war, sagte er: »Waren Sie überrascht, als man Sie aus Cambridge zurückholte?«
    »Ja. Ich glaube, das war ich. Hören Sie, Mister Wigram, wer sind Sie eigentlich?«
    »Überrascht, als man Ihnen sagte, weshalb Sie hier wieder gebraucht würden?«
    »Nein, nicht eigentlich überrascht.« Er suchte nach dem Wort. »Bestürzt.«
    »Bestürzt. Haben Sie je mit dem Mädchen über Ihre Arbeit gesprochen?«
    »Natürlich nicht.«
    »Natürlich nicht. Aber kommt es Ihnen nicht merkwürdig vor - möglicherweise mehr als nur ein Zufall - möglicherweise sogar unheimlich -, daß uns die Deutschen an einem Tag im Nordatlantik völlig blockieren und zwei Tage später die Freundin eines der führenden

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