Enigma
- ein Mangel, der bedeutete, daß Hester im Herbst 1942, zu Beginn des Winterhalbjahrs, außer Religion (ihrem üblichen Fach) auch noch Englisch und etwas Latein und Griechisch unterrichten mußte.
Hester hatte eine Begabung für Kreuzworträtsel, und als Angela an diesem Abend vorlas, daß das Preisgeld 20 Pfund betrage… nun, da hatte sie gedacht, warum nicht? Die erste Hürde, ein außerordentlich schwieriges Rätsel in der Ausgabe am nächsten Tag, löste sie mühelos. Sie schickte ihre Lösung ein, und fast postwendend kam ein Brief, der sie zur Endausscheidung einlud, die vierzehn Tage später, an einem Samstag, in der Personalkantine des Telegraph stattfinden sollte. Angela erklärte sich bereit, das Hockey-Training zu übernehmen. Hester fuhr mit dem Zug von Crewkerne nach London, traf mit fünfzig anderen Finalisten zusammen - und gewann. Sie löste das Kreuzworträtsel in drei Minuten und zweiundzwanzig Sekunden, und Lord Camrose überreichte ihr persönlich den Scheck. Sie gab ihrem Vater 5 Pfund für den Restaurierungsfonds seiner Kirche, sie gab 7 Pfund für einen neuen Wintermantel aus (aus zweiter Hand natürlich, aber so gut wie neu), und den Rest brachte sie auf ihr Postsparbuch.
Am Donnerstag darauf war der zweite Brief gekommen, der völlig anders aussah. Einschreiben. Großer bräunlicher Umschlag. Im Dienste Ihrer Majestät.
Später war sie sich nie sicher. Hatte der Telegraph den Wettbewerb auf Veranlassung des Heeresministeriums ausgeschrieben, als Methode, das Land nach Männern und Frauen mit einer Begabung für Worträtsel zu durchforsten? Oder hatte irgendein heller Kopf im Heeresministerium lediglich die Ergebnisse des Wettbewerbs gesehen und den Telegraph um eine Liste der Finalisten gebeten? Auf jeden Fall waren fünf der am besten Geeigneten aufgefordert worden, zu einem Gespräch in einem düsteren Bürogebäude aus der Viktorianischen Zeit und auf der falschen Seite der Themse zu erscheinen, und drei von ihnen wurden angewiesen, sich in Bletchley zu melden.
Die Schule wollte sie nicht gehen lassen. Ihre Mutter hatte geweint. Ihrem Vater war die Idee zuwider gewesen, wie ihm jede Veränderung zuwider war, und schon Tage vorher hatte er in düsteren Vorahnungen geschwelgt (»Und kommt nicht wieder in sein Haus, und sein Ort kennet ihn nicht mehr«, Hiob 7.10). Aber Gesetz war Gesetz. Sie mußte gehen. Außerdem, dachte sie, war sie achtundzwanzig. War sie dazu verurteilt, den Rest ihres Lebens am gleichen Ort zu verbringen, eingehüllt in diesen verschlafenen Flickenteppich aus winzigen Feldern und honigfarbenen Dörfern? Hier war ihre Chance zum Entkommen. Bei dem Vorstellungsgespräch hatte sie genügend Hinweise aufgeschnappt, um zu wissen, daß ihre Arbeit etwas mit Codes zu tun haben würde, und ihre Phantasien gaukelten ihr stille, mit Büchern angefüllte Bibliotheken und die reine, saubere Luft des Intellekts vor.
Nachdem sie an einem klatschnassen Montagmorgen in ihrem Mantel aus zweiter Hand in Bletchley angekommen war, wurde sie mit quietschenden Reifen ins Herrenhaus befördert und mußte dort ein Exemplar des Geheimhaltungsgesetzes unterschreiben. Der Armeehauptmann, der sie verpflichtete, legte seine Pistole auf den Schreibtisch und sagte, falls einer von ihnen jemals auch nur ein Wort von dem verlauten ließe, was sie hier erführen, würde er sie damit erschießen. Eigenhändig. Dann wurde ihnen ihre Arbeit zugewiesen. Die beiden männlichen Finalisten wurden Kryptoanalytiker, während man sie, die Frau, die die Männer geschlagen hatte, in ein Irrenhaus namens »Kontrolle« steckte.
»Sie nehmen dieses Formular hier, und in die erste Spalte tragen Sie den Codenamen der Horchstelle ein. Chicksands, rechts, das ist CKS, Beaumanor ist BMR, Harpendon ist HPN - keine Sorge, Mädchen, Sie werden sich bald daran gewöhnt haben. Und hier, sehen Sie, tragen Sie den Auffangzeitpunkt ein, hier die Frequenz, hier das Rufzeichen, hier die Anzahl der Buchstabengruppen…«
Ihre Phantasien waren Staub. Sie war eine bessere Schreibkraft, »Kontrolle«, eine Art Trichter zwischen den Horchstellen und den Kryptoanalytikern, ein Trichter, durch den sich der unaufhörliche Strom von rund vierzigtausend verschiedenen Funkrufzeichen ergoß, die mehr als sechzig einzeln identifizierte Enigma-Schlüssel benutzten.
»Deutsche Luftwaffe, rechts, das sind gewöhnlich Insekten oder Blumen. Nehmen Sie zum Beispiel Cockroach, das ist der Enigma-Schlüssel für die in Frankreich
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