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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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plötzlich ein Schwall eiskalter Luft herein. Formulare und Papiere raschelten und flatterten.
    Langweiler. Langweilig, Claires Lieblingsworte. Der Park war langweilig. Der Krieg war langweilig. Die Stadt war fürchterlich langweilig. Und die Männer waren die größten Langweiler von allen. Die Männer - mein Gott, was für eine Art von Duft ging von ihr aus? -, es gab immer zwei oder drei von diesen Typen, die herumhingen wie brünstige Kater. Und wie sie sich über sie lustig machte, an diesen kostbaren Abenden, an denen sie und Hester allein waren, gemütlich vor dem Feuer saßen wie ein altes Ehepaar. Sie machte sich lustig über deren ungeschicktes Gefummel, ihr sentimentales Geschwätz, ihre Überheblichkeit. Der einzige Mann, über den sie sich nicht lustig gemacht hatte, war, wie Hester sich jetzt erinnerte, der seltsame Mister Jericho, den sie nie auch nur erwähnt hatte.
    »ADU, Miss Wallace…«
    Jetzt, wo sie sich entschlossen hatte, es zu tun - und hatte sie nicht insgeheim von Anfang an gewußt, daß sie es tun würde? -, war sie verblüfft, wie gelassen sie war. Sie würde nur einen ganz kurzen Blick darauf werfen, sagte sie sich, und was sollte dagegen einzuwenden sein? Sie hatte sogar die perfekte Ausrede, die Registratur aufzusuchen, denn der Widerling Miles hatte ihr doch in Anwesenheit all der anderen aufgetragen, sich zu vergewissern, daß alle Bände in der richtigen Reihenfolge standen.
    Sie vervollständigte das Formular und legte es in sein Fach. Sie zwang sich, eine angemessene Zeit abzuwarten, während sie so tat, als überprüfte sie die Arbeit der anderen, dann machte sie sich so beiläufig, wie sie nur konnte, auf den Weg zur Registratur.

2.
    Jericho zog die Vorhänge auf, und zum Vorschein kam ein weiterer kalter, klarer Morgen. Es war erst sein dritter Tag im Gästehaus, aber der Ausblick war ihm bereits seltsam vertraut. Zuerst kam der lange und schmale Garten (Betonfläche mit Wäscheleine, Gemüsebeete, Luftschutzbunker), der nach ungefähr siebzig Metern in eine Wildnis aus Unkraut und einen verrotteten, umgestürzten Zaun überging. Das darunterliegende Gelände konnte er nicht einsehen, weil es steil abfiel, und dann kam ein breites Areal von Eisenbahngleisen, ein Dutzend oder mehr, die das Auge auf das Herzstück lenkten: einen riesigen Lokschuppen aus der Viktorianischen Zeit, auf dem in stark verschmutzten weißen Lettern die Aufschrift LONDON MIDLAND & SCOTTISH RAILWAY erkennbar war.
    Was für ein Tag lag heute vor ihm: die Art von Tag, die man hinter sich brachte, mit keinem anderen Ziel, als heil am Ende anzukommen. Er warf einen Blick auf seinen Wecker. Es war Viertel nach sieben. Auf dem Nordatlantik würde es noch mindestens vier Stunden dunkel sein. Seiner Schätzung nach würde es für ihn - frühestens - um Mitternacht britischer Zeit etwas zu tun geben, wenn die ersten Schiffe des Konvois in die U-Boot-Gefahrenzone einliefen. Nichts zu tun, außer in der Baracke herumzusitzen, zu warten und zu grübeln.
    In der Nacht war Jericho dreimal entschlossen gewesen, Wigram aufzusuchen und ein volles Geständnis abzulegen; beim dritten Mal war er sogar aufgestanden und hatte seinen Mantel angezogen. Aber letzten Endes war ihm die Sache doch zu heikel gewesen. Einerseits war es seine Pflicht, Wigram alles zu sagen, was er wußte. Andererseits würde das, was er wußte, beim Nachforschen nach ihrem Verbleib kaum von praktischem Wert sein, also weshalb sie verraten? Die Gleichungen hoben sich gegenseitig auf. Als die Dämmerung anbrach, hatte er sich dankbar der alten Trägheit ergeben, eine Folge seiner Angewohnheit, jedes Problem immer von beiden Seiten zu betrachten.
    Und das alles konnte immer noch irgendein scheußlicher Irrtum sein, oder etwa nicht? Irgendein dummer Streich, der fürchterlich schiefgegangen war. Seit seinem Gespräch mit Wigram waren elf Stunden vergangen. Durchaus möglich, daß sie sie inzwischen gefunden hatten. Oder noch wahrscheinlicher, daß sie wieder aufgetaucht war, entweder bei sich zu Hause oder in der Baracke - großäugig und erstaunt darüber, daß sich alle so aufgeregt hatten…
    Es war im Begriff, sich vom Fenster abzuwenden, als sein Auge eine Bewegung am hinteren Ende des Lokschuppens wahrnahm. War es irgendein größeres Tier oder ein Mann, der auf allen vieren herumkroch? Er schaute angestrengt durch die rußverschmierte Scheibe, aber das Ding war zu weit weg, als daß er es genau hätte erkennen können, also holte er sein Teleskop

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