Enigma
Bletchley Park, 1943)
1.
Der Kriegslippenstift war hart und wächsern - es war, als versuchte man, sich die Lippen mit einer Christbaumkerze anzumalen -, und als Hester Wallace nach mehreren Minuten angestrengten Reibens ihre Brille wieder aufsetzte, schaute sie angewidert in den Spiegel. Make-up hatte in ihrem Leben nie eine große Rolle gespielt, nicht einmal vor dem Krieg, als es in den Läden alles zu kaufen gab. Aber jetzt, wo nichts mehr zu haben war, war das Ausmaß der Anstrengungen, die man unternehmen mußte, geradezu absurd. Sie wußte von anderen Frauen in der Baracke, die sich Lippenstift aus Rote Bete, vermischt mit Vaseline, hergestellt hatten, die Schuhcreme und verbrannten Kork als Wimperntusche benutzten und sich doppeltkohlensaures Natron in die Achselhöhlen stäubten, um ihren Schweiß zu überdecken… Sie formte ihre Lippen zu einem Kußmund, den sie rasch in eine Grimasse umwandelte. Wirklich, es war absurd, völlig absurd…
Der Mangel an Kosmetika schien sogar Claire eingeholt zu haben. Obwohl ihre kleine Frisierkommode voll war von Flaschen und Tiegeln - Max Factor, Coty, Elizabeth Arden, alles Namen, die an den Glanz der Vorkriegszeit erinnerten -, erwiesen sich die meisten bei genauerem Hinsehen als leer. Nur ein Hauch von Duft war noch übrig geblieben. Hester roch an dem einen oder anderen Töpfchen, und ihr Kopf füllte sich mit Bildern von Luxus - von seidenen Cocktailkleidern von Worth of London und Abendkleidern mit gewagten Dekolletés, vom Feuerwerk in Versailles, vom Sommerball der Herzogin von Westminster und Dutzenden weiterer herrlicher Belanglosigkeiten, von denen Claire ihr vorgeschwärmt hatte. Schließlich fand sie ein noch halb volles Döschen mit Wimperntusche und ein mit einem Glasstopfen verschlossenes Gefäß mit einem Rest von ziemlich klumpigem Gesichtspuder, und mit diesen Dingen machte sie sich an die Arbeit.
Sie bediente sich ohne Gewissensbisse. Hatte Claire nicht immer gesagt, sie sollte es tun? Sich aufputzen macht Spaß, das war Claires Einstellung, man fühlte sich gut, es verwandelte einen, und außerdem, »wenn es das ist, worauf es ankommt, meine Liebe, tut man es einfach…« Also gut. Hester tupfte ingrimmig auf ihren blassen Wangen herum. Wenn es das war, worauf es ankam und ihr dabei half, Miles Mermagen dazu zu bringen, daß er einer Versetzung zustimmte, dann würde sie es eben tun.
Sie betrachtete ihr Spiegelbild ohne eine Spur von Begeisterung, dann stellte sie alles an seinen angestammten Platz zurück und ging nach unten. Das Wohnzimmer war frisch gefegt. Narzissen über dem Kamin, darin Scheite aufgeschichtet. Auch die Küche war blitzsauber. Früher am Abend hatte sie einen Karottenkuchen gebacken, ausreichend für zwei, mit Zutaten, die sie selbst in dem kleinen Gemüsegarten neben der Küchentür gezogen hatte, und nun legte sie ein Gedeck für Claire auf und legte ihr eine Nachricht dazu, auf der stand, wo sie den Kuchen finden konnte und wie sie ihn aufwärmen sollte. Sie zögerte, dann schrieb sie darunter: »Willkommen zurück - wo immer du gewesen sein magst! - Ganz herzlich, H.« Sie hoffte, daß sich das nicht zu besorgt und neugierig anhörte; sie hoffte, daß sie sich nicht so verhielt wie ihre Mutter.
»ADU, Miss Wallace…«
Natürlich würde Claire zurückkommen. Es war nichts als Panik, zu dumm, um Worte darüber zu verlieren.
Sie setzte sich in einen Sessel und wartete bis Viertel vor zwölf; länger zu warten, getraute sie sich nicht.
Als ihr Fahrrad den Pfad zur Straße entlangholperte, schreckte sie eine Schleiereule auf, die sich stumm wie ein Geist ins Mondlicht erhob.
In gewisser Hinsicht war Miss Smallbone an allem schuld. Wenn Angela Smallbone nicht nach dem Unterricht im Lehrerzimmer darauf hingewiesen hätte, daß der Daily Telegraph einen Kreuzworträtsel-Wettbewerb ausgeschrieben hatte, dann wäre das Leben von Hester Wallace auch weiterhin so verlaufen wie bisher. Es war kein sonderlich aufregendes Leben - ein ruhiges Leben in der Provinz, in einer abgelegenen, etwas verschrobenen Privatschule für Mädchen in der Nähe der Stadt Beaminster in Dorset, weniger als zehn Meilen von dem Ort entfernt, an dem Hester aufgewachsen war. Und es war ein Leben, dem der Krieg nicht viel hatte anhaben können, abgesehen von den blassen Gesichtern der Mädchen, die auf einige der nahegelegenen Farmen evakuiert worden waren, dem Stacheldraht am Strand in der Nähe von Lyme Regis und dem chronischen Mangel an Lehrpersonal
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