Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
aber sie lebt in einfachen Umständen. Die Patientin ist blind. Das dritte Mal kommt sie wieder mit alarmierenden Symptomen. Ich frage mich, was ist denn da los, warum spritzt sie nicht regelmäßig? Wenn Patienten mit Typ-1-Diabetes kein Insulin spritzen, werden sie irgendwann bewusstlos und kommen in eine lebensgefährliche Situation. Irgendwas stimmt da nicht. Es kann doch nicht sein, dass diese 50-jährige Frau bewusst kein Insulin spritzt. Nach vielen Fragen kommt heraus, dass sie nicht selber Insulin spritzt, weil sie die Dosis nicht sehen kann, sondern dass ihr Mann spritzt. Und wenn er betrunken ist, lässt sie ihn halt nicht spritzen, weil er dann schon mal zu viel verabreicht und sie eine Unterzuckerung fürchtet. Wenn er ein paar Tage hintereinander betrunken ist, bekommt sie eben zu lange gar kein Insulin. Das erklärt, warum sie so oft im Koma ins Krankenhaus eingeliefert wird.
Ich habe über das Selbstbild der Ärzte gesprochen. Jetzt würde ich gerne etwas über andere Zwänge erzählen, die bewirken, dass Patienten sich manchmal als Ware, als Aktenzeichen empfinden.
Da ist der ewige Zeitmangel, die Orientierung an bezahlbaren Leistungen. Da ist die Verwechslung der Medizin mit einer marktwirtschaftlichen Branche. Medizin unterliegt in vielen Bereichen aber nicht den Gesetzen der Ökonomie. Zum Beispiel Angebot und Nachfrage. Sie würden sich doch nicht jetzt ein neues Mittel gegen Krebs oder Multiple Sklerose kaufen, nur weil es heute billiger ist als gestern. Und wenn Sie es brauchen, weil Sie verzweifelt sind, weil Ihre Existenz bedroht ist, dann zahlen Sie auch den dreifachen, vierfachen Preis – jeden Preis. Da funktioniert Marktlogik des Warenhandels schon mal nicht.
Der Verwaltungsdirektor will bestimmte Zahlen haben, also spricht er mit den leitenden Ärzten und setzt sie unter Druck. Bewusst oder unbewusst neigt man dann dazu, mehr zu machen. Und »mehr« ist in der Medizin häufig »zu viel«; die Steigerung der Anzahl der erbrachten Leistungen ist häufig nicht gut, sondern schlechter. Jede Intervention in der Medizin hat immer auch Nachteile. Und wenn sie nicht notwendig ist, kann sie sehr schnell etwas Negatives bewirken. Das funktioniert anders als in der Warenwirtschaft. Dort gilt zum Beispiel: Je mehr iPhones ich verkaufe, umso mehr Erfolg habe ich. In der Medizin ist es aber nicht unbedingt besser, möglichst viele Bandscheibenvorfälle zu operieren.
Ich habe mal einen älteren Angehörigen aus einem Krankenhaus geholt, weil man ihm dort, ungefragt, eine neue Hüfte verpassen wollte. Auf dem Röntgenbild zeigte sich nur der normale Verschleiß, das konnte ich genau sehen. »Da ist nichts«, habe ich dem Kollegen gesagt. Antwort: »Das kann noch kommen.« Faktisch standen zwei Krankenhäuser im Ort im Wettbewerb, es war abzusehen, dass eins schließen sollte. Und so kam es zum total absurden Wettlauf um Patienten.
Die Ursache liegt in der Überversorgung. Es gibt zu viele Krankenhäuser, zu viele Krankenhausbetten. Wir müssen uns auf ein vernünftiges Maß zurückziehen, die vorhandenen Ressourcen bündeln. Es macht doch keinen Sinn, dass zum Beispiel in einer mittleren Stadt drei Krankenhäuser an einem Nachmittag Notdienst haben – warum? Warum kann man das nicht zusammenführen? Das würde die Anzahl der Dienste für die Ärzte reduzieren, das würde die Krankenhäuser effizienter arbeiten lassen. Stattdessen hat man die Krankenhäuser gegeneinander in einen ruinösen Wettbewerb getrieben, der auch Patienten schadet.
Es ist natürlich schwierig, ein Krankenhaus zu schließen. In einem solchen Fall müsste ein Bürgermeister öffentlich aussprechen, es ist nicht schlimm, dass die Bürger 30 Kilometer zur nächsten Stadt fahren müssen, wo vielleicht ein größeres Krankenhaus ist. Vielleicht wird er dann nicht wiedergewählt? Er müsste den Bürgern verständlich Zusammenhänge erklären, die er vielleicht selbst nicht versteht. Zum Beispiel, dass es in der Medizin nicht um Profit gehen sollte und auch nicht primär um das Ansehen eines Ortes. Es geht darum, Menschen möglichst gut zu versorgen. Das ist ein anderes Ziel. Es geht um Ergebnisqualität.
In einem ländlichen Gebiet kann man natürlich nicht einfach Krankenhäuser dichtmachen, aber man kann schon bestimmen, wie viele Krankenhausbetten wirklich nötig sind, sodass jeder ein Krankenhaus gut erreichen kann und nicht auf ein freies Krankenhausbett warten muss. Die Gesundheitsministerien der Länder zum Beispiel
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