Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Voraussetzungen für seine Entscheidung informiert werden. Nur dann kann er oder sie wirklich entscheiden. Und das ist die eigentliche Pflicht der Ärzte. Sie müssen so informieren, dass die Patienten sich wissend frei entscheiden können. Ausnahme ist, wenn der Patient sagt: »Ich möchte es gar nicht wissen.« Solche Patienten gibt es auch, und man muss sie ernst nehmen, danach handeln und manchmal für sie entscheiden. Ganz besonders problematisch ist die fehlende Beteiligung an der Behandlung bei chronischen Erkrankungen, also Leiden, mit denen die Patienten ihr ganzes Leben lang zurechtkommen müssen. Wir haben chronisch kranken Patienten zum Beispiel beigebracht, wie sie sich selber behandeln können. Gerade bei chronischen, unheilbaren Erkrankungen können Patienten sehr häufig ihre Behandlung mit übernehmen und auch sehr viel für sich tun – unter bestimmten Bedingungen. Sie müssen zunächst ihren Zustand messen können. Also zum Beispiel den Atemwegswiderstand beim Asthma oder den Blutdruck beim Bluthochdruck oder das Gewicht bei der Herzschwäche oder den Blutzucker beim Diabetes. Dann müssen Patienten wissen, was sie selbst tun können, um Abweichungen auszugleichen. Sie können sehr viel machen, jeden Tag. Also zum Beispiel: das Insulin verändern und die Medikamente beim Bluthochdruck adaptieren. Oder die Schmerztherapie entsprechend selber anpassen.
Für mich war es immer schön, diese Prozesse zu größerer Unabhängigkeit zu fördern, weil die Patienten später kommen und sagen: »Seitdem ich selber Insulin dosiere, seitdem ich weiß, wie ich das selber machen kann, geht es mir viel besser. Und ich kann noch andere Dinge machen, ich traue mir mehr zu, ich bin freier, unabhängiger.« Ein Schritt hin zu mehr Mündigkeit, aber auch zu mehr Selbstverantwortung. Und die Ergebnisse sind objektiv auch besser. Dafür braucht man natürlich Zeit. Dies geht nicht bei akuten Erkrankungen wie zum Beispiel schweren Unfallverletzungen oder anderen schweren akuten Erkrankungen, bei denen der Patient nicht in der Lage ist mitzuentscheiden, oder wenn keine Zeit dafür verbleibt. Aber es geht häufiger, als man denkt. Auch im Krankenhaus. Die Strukturen müssen dafür nur vorhanden sein, und die Bereitschaft der Ärzte, sich in dieser Art der Medizin ausbilden zu lassen und dafür Zeit zu investieren. Eine Zeit, die aber in unserem derzeitigen System nicht bezahlt wird. Der Patient kann nicht fordern, informiert mitzuentscheiden, der behandelnde Arzt muss ihm das anbieten.
Ich erinnere mich an meine eigene Zeit als junger Arzt im Krankenhaus. Es ging meist darum, auf eine Diagnose zu kommen, auf die kein anderer gekommen war. Dafür gab und gibt es das größte Lob. Und deswegen versuchen alle ein bisschen »Doctor House« zu sein, ja? Das gelang mir damals auch zwei, drei Mal, dafür kriegte man Anerkennung. Aber das ist nicht das Wesentliche, es macht keinen guten Arzt aus. Ein guter Arzt ist ein Arzt, dem die Patienten hinterher danken. Oder die Angehörigen von Verstorbenen, denn auch bei einem guten Arzt sterben Patienten. Erstrebenswert ist, dass gesagt wird: »Ich habe mich gut behandelt gefühlt, ich hab mich bei Ihnen aufgehoben gefühlt.«
So denkt man jedoch nicht am Anfang der Karriere. Am Anfang ist man der Held und kann scheinbar alles. Nach drei Jahren Ausbildung kommt die gefährlichste Zeit: »Gib mir ein Messer, ich kann alles.« Später wird man bescheidener und hat andere Erfolgserlebnisse, denn gerade dieser Beruf hat ein großes Potenzial für Erfolgserlebnisse. Und das ist bis heute unveränderlich. Man muss die Patienten nicht lieben, aber man muss sich für ihre Probleme interessieren. Dies ist schwierig und zeitaufwendig. Einfacher ist es, nur das vermeintliche Hauptproblem zu sehen, zum Beispiel nur den Tumor in der Bauchspeicheldrüse, den man dann hervorragend operiert. Aber wie ist später das Gesamtergebnis aus der Patientensicht? Solch reduzierte Fähigkeiten machen aber keine guten Ärzte! Sie sind vielleicht gute Operateure, können technisch sehr gut operieren, aber sie sind keine guten Ärzte. Ich spüre, ob Kollegen Interesse haben am Patienten oder ob sie Interesse haben am Befund. Das Wesentliche steht nicht in den Laborwerten.
Ein Beispiel: Eine Patientin wird zum dritten Mal nahezu bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert, eine Patientin mit Typ-1-Diabetes; sie hat das für sie lebensnotwendige Insulin nicht gespritzt. Dabei sie ist eigentlich eine vernünftige Frau,
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