Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
für die Assistenzärzte ist entsprechend groß. Woher sollen sie auch wissen, was im Schockraum zu tun ist, wenn wir tagsüber keine Zeit haben, es ihnen beizubringen? Wo soll ihr medizinisches Alltagswissen herkommen? Bei manchen Kollegen führt dieses Ungenügen nicht nur zu Müdigkeit, Angstzuständen und Erschöpfung, sondern auch zu Zynismus – keine gute Voraussetzung, um ein guter Arzt zu werden. In diesen Nächten bin ich als Oberärztin besonders gefordert. Ich kenne ja die Lage der jungen Kollegen. Unmittelbar nach der Approbation, als ich die ersten Male als Assistenzärztin allein Nachtdienst hatte, kamen mir manchmal die Tränen. Wenn man 24 Stunden auf den Beinen ist, wenn der ganze Körper kribbelt, wenn die Augen brennen und nach einem Zehn-Minuten-Schlaf kaum aufgehen, ist man einfach nur erschöpft. Später lernte ich, damit zu leben, aber die Angst blieb, aufgrund von Müdigkeit eine falsche Entscheidung bei der Behandlung eines Patienten zu treffen. Ich hoffe bis heute, diese extreme Anstrengung wird nie dazu führen, dass ein Patient bei mir zu Schaden kommt oder gar stirbt.
Ob ich gläubig bin? Ja! Aus der Kirche bin ich ausgetreten. Beten hilft im Krankenhaus nicht. Und ich bin dort nicht der gute Mensch, der selbstlos allen helfen will. Aber ich fühle, dass es andere Kräfte gibt, dass das Leben einen Sinn hat. Dass es einen Übergang gibt. Ich habe keine Angst, irgendwann zu sterben. Ich möchte mutig sterben und habe eine Vorstellung davon, wie man zu sterben hat. Mit Würde. Viele Menschen sterben heute nicht mehr in der Familie. Familien sind oft nicht mehr belastbar und können kaum die Alten und Kranken mittragen. Betreuung wird über die Altenheime outgesourced. Ich glaube, dass viele Menschen in unserer Gesellschaft deshalb kein Rezept haben, mit länger währender Krankheit umzugehen.
Ich habe eine kritische Haltung zu Transplantationen. Wer ein neues Organ bekommt, muss ein Leben lang Medikamente nehmen, um die Abstoßung des Organs durch den eigenen Körper zu verhindern. Daran verdienen die Pharma-Firmen ein Vermögen. Transplantationen kosten unser Gesundheitssystem sehr viel Geld. Eine Lebertransplantation zum Beispiel kostet etwa 250000 Euro. Die anschließenden Kontrollen und die immunsuppressiven Medikamente sind nicht eingerechnet. Ganz abgesehen davon, dass Transplantationen leider weltweit auch zum Geschäft gemacht werden und dass es illegalen und menschenverachtenden Organhandel gibt, stelle ich folgende Frage: Darf sich eine Gesellschaft, die anscheinend die benötigten Ärzte und Pflegekräfte nicht mehr bezahlen kann, solch extrem teure Behandlungen leisten?
Persönlich habe ich mich gegen Transplantation und gegen Organspende entschieden, auch deshalb, weil ich glaube, dass Menschen sich nicht der Organe anderer Menschen bedienen sollten, um ihr eigenes Leben zu verlängern. Im weitesten Sinne erinnern mich Transplantationen auch an den ethnologisch gut erforschten Kannibalismus. Die Angehörigen bestimmter Eingeborenenstämme zum Beispiel in der Südsee haben sich aus rituellen Gründen die Organe ihrer hochrespektierten Feinde einverleibt, um deren Kräfte aufzunehmen. Als zivilisierter Mensch kann ich das rational erfassen, lehne es aus ethischen Gründen aber natürlich ab. Muss ich damit nicht zwangsläufig auch Transplantationen ablehnen?
Die Werte wandeln sich, und wir müssen diesem Wandel einen positiven Sinn geben. Wir leben leider zunehmend virtuell, in einer Computerwelt mit Facebook und anderen vermeintlich sozialen Netzwerken. Wir kümmern uns um den schönen, unversehrten Körper und halten ihn für so wichtig, dass er uns ein Leben lang möglichst bis zum 120sten Geburtstag begleiten soll. Aber wenn uns eines Tages etwas zustößt, der Schmerz uns mitten im Körper und in der Seele trifft, dann spüren wir mit einem Mal, dass wir nicht virtuell, sondern wirklich sind. Unser Körper holt uns dann in die normale Welt zurück.
Wie steht es denn jetzt schon um die vielen alten Patienten, die nicht nur Körperschmerz, sondern auch Seelenschmerz haben? Weil sie einsam sind. Und dann kommt bei der Visite ein Arzt vorbei – meistens nicht der, der gestern da war, sondern irgendeiner seiner Kollegen, der gerade eingeteilt ist, der sozusagen amtlich verpflichtet ist zuzuhören. Aber der hat nur eine Minute Zeit. Vielleicht kann er eine Sachfrage klären. Doch der Kranke möchte mehr, er braucht sozialen Kontakt zu dem Arzt, der ihn behandelt. Früher
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