Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
»Zielgrößen nach Art und Menge« sein.
23 Frankfurter Rundschau vom 24.7.2012: »Arzt sollte Bonus für Operationen bekommen«; vgl. auch Stuttgarter Zeitung vom 25.7.2012: »Manipulationen erschweren«
24 Erklärung der Deutschen Krankenhausgesellschaft vom 4.9.2012: »Manipulationsvorwürfe in der Transplantationsmedizin . Zielvereinbarungen in Chefarztverträgen«
25 vgl. Malzahn, Jürgen; Wehner, Christian: Von der Mengenorientierung zur qualitätsorientierten Kapazitätssteuerung, in: Krankenhausreport 2013, S. 229
Der Chef
Professor Ulrich Joos, Deutsche Chirurgiestiftung
Eine Stimme von der anderen, der ärztlichen Seite. Höflich bestätigt er meine Schilderungen – Genugtuung! Denn er ist Doktor med. und Doktor med. dent., lehrt künftige Generationen, nimmt Staatsexamen ab, operiert noch selbst und vernetzt sich mit Kollegen, um auf Tagungen Krankenversorgung, Forschung und Ausbildung voranzubringen. Ein veritabler Professor und Chefarzt, der mir schreibt:
»Das Erschreckende ist, dass alle diese Vorgänge qualifiziert, zertifiziert und akkreditiert sind und dass man offensichtlich über diesem Zertifizierungswahn die Behandlung von Menschen im Krankenhaus in jeder Hinsicht vernachlässigt.«
Wir telefonieren, ich spüre seinen Stolz auf den Chirurgenberuf. Stolz, weil die deutsche Chirurgie ein hohes internationales Ansehen hatte und hat. Stolz auf neue Operationstechniken. Daneben die riesige Sorge, dass der Nachwuchs verschwindet. Im Jahr 2009 waren in den Krankenhäusern 5000 Arztstellen unbesetzt, in fünf Jahren werde sich der Mangel mehr als verdreifachen – so seine Zahlen. Und ja, die Bevölkerung wird älter, und die Operationen werden dramatisch zunehmen. Wo werden die neuen Chirurgen herkommen, wer interessiert sich noch für einen solchen Stressberuf?
Ich bereite mich vor. Wie mag einer sein, der Hasenscharten korrigiert, Gesichtstumore behandelt? Für Unfallopfer sind Spezialisten wie er manchmal die einzige Rettung vor Entstellung und Selbsthass, denke ich. Er wird gewiss alles Schaurige, das er in Jahrzehnten gesehen hat, in Zynismus verarbeitet haben.
Doch dann treffe ich einen lächelnden, höflichen Herrn, der jede Frage frei und persönlich beantwortet, sich nicht wegschnörkelt aus der Problematik. Er spreche zu mir explizit nicht als Chefarzt und Vertreter seiner Klinik, sondern als Vorsitzender der Deutschen Chirurgiestiftung, die vor allem Nachwuchsförderung betreibe. Und als solcher könne und wolle er kritisieren. Noch vor seiner Emeritierung ab 1. März 2013 wollte er auf Defizite hinweisen. Kein harter Hund, kein Frustrierter, nein, er gehört zum medizinischen Establishment. Jahrzehntelange Erfahrung hat er und das große Verlangen, dass Ärzte sich wieder auf Menschen, nicht auf Mengenabfertigung verstehen sollen. Ein Anliegen nimmt mich besonders ein: Weil der Frauenanteil in der Medizin größer werde, streite er auch für familienfreundliche Arbeitszeiten.
Warum er Arzt wurde? »Ich hatte zwei Traumberufe, eigentlich wollte ich Physiker werden, aber dafür hielt ich mich dann doch für zu blöde, und ich fürchtete zu scheitern. Mein Vater war auch Arzt, damit war ich also ganz früh vertraut. Und es hat zeitlebens sehr großen Spaß gemacht.«
Weniger Freude hat er an den vielen Stellschrauben, die zur Qualitätsminderung führen. Früher hatte man Anspruch auf zehn Tage Fortbildung. Heute – mit Glück – drei oder vier. Und dann sollen die Leute ausgerechnet Wirtschaftlichkeit lernen. Wirtschaftlichkeit – Anfang, Mitte und Ende jeder Erzählung.
Heute haben Ärzte in Kliniken nichts mehr zu melden
Protokoll einer Entfremdung
Aus meiner Sicht hat ein dramatischer Wandel im Gesundheitswesen stattgefunden. Politisch gewollt und erzwungen, hat man das frühere Gesundheitssystem zerschlagen nach dem Motto: »Die Halbgötter in Weiß, sie müssen alle weg.« Ob die alle so schlecht waren, weiß ich nicht. Natürlich gibt es in jeder Sparte schwarze Schafe, auch Exzesse, das will ich gar nicht beschönigen. Aber ich habe als junger Chirurg höchst verantwortungsbewusste Personen erlebt, die genau wussten, was sie können und was sie nicht können. Heute sind die Halbgötter in Weiß durch Götter in Schwarz ersetzt worden, und die Ärzte haben in den Kliniken nichts mehr zu melden. Heute diktiert der Vorstand den Ärzten, was sie zu tun haben, und über die zu erbringenden Leistungen werden Zielvereinbarungen getroffen. Zahlreiche klinische Bereiche werden
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