Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
lernte ich Begeisterung für meinen Beruf und erlebte weltoffenes Verhalten, wo lediglich die Medizin wichtig war. Ich war erstmalig 1973 in Frankreich an der Universitätsklinik in Nantes und wurde mit offenen Armen dort aufgenommen, was zu dieser Zeit für einen Deutschen nicht selbstverständlich war. Dessen ungeachtet wurde ich voll in die Klinik integriert, und freimütig zeigte man mir alle operativen Verfahren. Bis heute bin ich meinen damaligen Lehrern tief verbunden. Professor Schilli und Professor Delaire waren für mich große Vorbilder, und solche Erfahrungen, solche Menschen prägen für die Zukunft, besonders in einem chirurgischen Fach.
Die Deutsche Chirurgiestiftung kam genau aus solchen Überlegungen zustande, nämlich für alle chirurgischen Fächer Nachwuchs zu finden. Es gibt ein paar interessante Zahlen: Werden die Studenten am Anfang des Studiums befragt, wollen knapp 50 Prozent Chirurg werden, nach dem Staatsexamen sind es nur noch 30 Prozent, und nach dem Praktischen Jahr sind es nur noch 5 Prozent. Der Schwund kommt also in der Klinikwirklichkeit zustande, wenn die jungen Kollegen und Kolleginnen den Klinikalltag kennenlernen, so mein Eindruck. Dabei sind die jungen Leute nicht bequem, wie oft behauptet wird – ich hab ja viel mit Studenten zu tun –, sondern sie sind in der Regel leistungsbereit.
Wo kriegen wir also die Chirurgen her? Wir selektieren falsch. Das fängt schon in der Schule an. Als ich zu studieren begann, gab es auch schon einen Numerus clausus, aber überhaupt nicht vergleichbar mit heute. Für Medizin waren Pflichtfächer vorgegeben: Latein, Deutsch, Mathe, Physik, Chemie, Bio. Ohne diese Fächer wurde man nicht zugelassen. Heute? Nichts davon. Nur eine nichtssagende Gesamtnote. Wir haben eine Zulassung mit 0,9. Und da werden im Jahr 400 oder 500 Studenten zugelassen mit 0,9. Aber ob die unbedingt die Geeigneten sind, in diesem Beruf zu arbeiten, das ist eine ganz andere Frage. Im Staatsexamen kriegen sie die anatomischen Namen nicht hin, weil sie nie Latein gehört haben. Auch ist das Medizinstudium verschult und erzieht nicht mehr zu selbständigem Arbeiten. Ein weiterer Faktor ist die Berufung von neuen Professoren. In den Universitäten geht die Auswahl heute überwiegend nach Impact-Punkten und Hirsch-Faktor, das heißt, nach Veröffentlichungen und Drittmitteleinwerbung. Die operativen Fähigkeiten stehen nicht mehr im Vordergrund. Früher waren gerade die Universitäten in Deutschland die Stellen, wo das höchste medizinische Niveau vorherrschte. Und zwar operativ und in der Forschung.
Wie ein Chirurg sein sollte? Er sollte schon mal nicht ganz dumm sein. Er braucht Ausdauer, muss einstecken können. Er muss wieder aufstehen, wenn er eine auf die Nase bekommen hat. Chirurgie ist die Verbindung von profundem medizinischen Wissen und handwerklichem Geschick, verbunden mit einem dreidimensionalen Vorstellungsvermögen. Das bekomme ich nicht an Computern. Ein Gefühl für unterschiedliche Gewebearten entwickle ich nur bei der Arbeit mit meinen Händen. Standvermögen, Durchhaltevermögen, hohe Motivation und Einsatzbereitschaft sollten also weit überdurchschnittlich sein. Meine Erfahrung ist, dass die jungen Leute über diese Fähigkeiten verfügen. Es wird ihnen später ausgetrieben.
Die Frauenquote in unserer Zahnmedizin ist bei ungefähr 90 Prozent, und in der Medizin bei zirka 70 Prozent. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass die Mädchen im Studium fleißiger sind als Jungen. Die arbeiten, die machen, die tun. Aber nach dem Studium ist Chirurgie nicht unbedingt ein Traumberuf für junge Frauen, insbesondere wenn sie den Klinikalltag mit Diensten, Überstunden, Bürokratie usw. erleben. Häufig zeigen die Klinikvorstände keinen Respekt gegenüber dem »weißen Bereich« – also gegenüber den Ärzten und dem Pflegebereich. Null. Die Klinikrealität bietet ein ganz anderes Bild, als es in der Öffentlichkeit dargestellt wird. Da erscheint der Arzt immer noch als Held und Retter.
Nur, man lässt sie weder Held noch Retter sein. Da greift so viel ineinander: auf der einen Seite die Vorstände, die nur Zahlen interessiert, was sie auch zum Ausdruck bringen. Vielleicht nach außen hin nicht, aber intern sehr wohl. Das ist ein ganz wichtiger Grund. Dann auch die Respektlosigkeit. Wenn jemand eingestellt wird, finden in der Regel keine wirklichen Verhandlungen wie früher statt, sondern es werden vom Vorstand die Bedingungen diktiert. Der Bewerber soll schnell
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