Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
hörte sich alles an, war dann auch in der Bestrahlungsabteilung und sagte dann: »Nein.« Bei ihr war die Entscheidung religiös motiviert: »Der Herrgott will das, ich lasse mich nicht operieren.« Für mich völlig akzeptabel. Genauso lief es bei einem Mann vor nicht allzu langer Zeit. Der war Ende siebzig, topfit, hatte einen Tumor, der eigentlich noch gut behandelbar gewesen wäre. Der Patient hat sich alles angehört, hat sich bedankt für die Aufklärung und gesagt: »Das mache ich aber nicht. Ich habe jetzt über siebzig Jahre gut gelebt, und solange es noch gut geht, mache ich einfach weiter.« Eine andere Patientin wollte um jeden Preis überleben. Auch dies ist eine Entscheidung, und wir Ärzte haben alles Mögliche zu tun, um dieses Ziel zu erreichen. Es ist uns auch gelungen, aber die Patientin ist entstellt und hat erhebliche funktionelle Einschränkungen. Es geht ihr gut dabei. Sie bleibt bei ihrer Entscheidung. Obwohl sie mit nahezu der doppelten Strahlendosis wie normal bestrahlt wurde. Furchtbar.
Mir sind zwei Fehler im operativen Bereich in Erinnerung. Der erste war eine Nachlässigkeit meinerseits, auch aus heutiger Sicht, weil ich bei der Voruntersuchung nicht genau geguckt habe. Es ging um einen Patienten mit doppelseitiger Lippen-Kiefer-Gaumenspalte; der gesamte Oberkiefer sollte verlagert werden. In einer früheren Operation war die Gaumenschleimhaut nicht komplett geschlossen worden, was bei der Untersuchung nicht ohne Weiteres zu sehen war. Ich habe also operiert und hatte plötzlich drei Teile des Oberkiefers in der Hand. Ich habe es dann irgendwie hingekriegt, und der Fehler führte letztlich, Gott sei Dank, nur dazu, dass der Patient einen Zahn verlor. Aber einen Schneidezahn. Und das war für mich schlimm, und ich habe die Konsequenz gezogen, nie wieder unter Zeitdruck eine derartige Untersuchung durchzuführen.
Ja, und die zweite Situation betraf einen Tumorpatienten. Ein Riesentumor. Die ganze Operation war hoch kritisch. Das wusste der Patient. Ich sprach vorher mit ihm darüber, dass er die OP möglicherweise nicht überlebt; die Wahrscheinlichkeit war ziemlich groß. Er war aber einverstanden, unterschrieb alles und teilte dies auch seiner Familie mit: »Das ist meine einzige Chance.« Der Mann hat den Eingriff nicht lange überlebt.
Und das lehrte mich eins: Mich zu fragen, ob man als Operateur eine OP gegebenenfalls ablehnen muss. In der OP zeigte sich, dass der Tumor explodiert war. Die Hauptschlagader zum Gehirn war verletzt, das war alles im Tumor. Das Gewebe war völlig morsch, es brach alles zusammen, auch die Hauptschlagader zum Gehirn, was zu einer massiven Blutung führte. Wir haben die Blutung stillen können, aber der Patient ist drei oder vier Tage später verstorben auf der Intensiv. Eine furchtbare Situation, die man nur nachvollziehen kann, wenn man so etwas erlebt hat. Heute würde ich diese Operation wahrscheinlich nicht mehr durchführen.
Kommen wir zur Wirtschaftlichkeit. Natürlich ist es Aufgabe eines Krankenhauses, wirtschaftlich zu arbeiten. Aber wir sind jetzt, aus meiner Sicht, weit über das Ziel hinausgeschossen, und zwar in Richtung eines inhumanen, lediglich kostenorientierten Gesundheitswesens. Ist halt für Deutschland typisch. Erst in die eine Richtung und dann wieder komplett zurück.
Ein Krankenhaus ist nun einmal keine Autowerkstatt. Und es kann auch nicht sein, dass man die verschiedenen Bereiche so aufdröselt. Wir haben inzwischen, ich weiß nicht wie viele GmbHs. Fängt schon an beim Putzen. Ich hab einen Ordner voll, was für Zustände bei uns herrschen. Ein Brief kam von der Hygienebeauftragten des Kreises W. Die hat einen netten Brief geschrieben, unsere Toiletten und Bäder auf der Station hätten den Charme einer Bahnhofstoilette. Wobei man vielen Bahnhofstoiletten unrecht tun würde. Das kann nicht sein! Die Arbeiten werden an externe Firmen outgesourced, die ja auch einem Preisdiktat unterliegen. In der Realität kommt dann jemand mit einem Eimerchen, kippt das im Zimmer aus, feuchtet durch, und das war es.
Früher war eine Stationsschwester dafür verantwortlich, die Putzkräfte blieben dieselben, und sie waren der Schwester unterstellt. Die konnte Anweisungen geben: »Hör mal, da hinten, mach mal.« Heute kommen und gehen die Putzkräfte, die Schwester darf nichts mehr sagen. Wir Ärzte wiederum dürfen den Schwestern nur medizinisch etwas abverlangen, alles andere gehört zum Pflegebereich.
Eine sterbenskranke Frau sollte
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