Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
bestimmte Großkammerbeutel, die muss man mischen, bevor man sie verabreicht. Als ich abends auf Station kam, sah ich, dass diese Infusion nicht gemischt war. Die Patientin hatte also nur die Flüssigkeit gekriegt, die Elektrolyte, Kohlenhydrate usw. – Fehlanzeige! Das fällt den ganzen Tag niemandem auf. Ein Zeichen, dass das Personal überfordert ist.
Anordnungen von ärztlicher Seite müssen offiziell immer schriftlich festgehalten sein. Aber vor allem abends empfangen wir sehr viele Anordnungen nur zwischen Tür und Angel. Oder telefonisch. Und oft sind Anordnungen nicht eindeutig nachvollziehbar, weil die Ärzte noch nicht einmal dazu kommen, sich Patienten anzugucken. Sie müssen sich auf das verlassen, was wir telefonisch berichten. Diese Art von Anordnungen sind für mich halbherzig und – wie soll ich das sagen – riskant. Wir nehmen ein Risiko auf uns, indem wir Sachen machen, die zwar angeordnet sind, aber wenn es mal schiefgeht, haben wir nicht die Sicherheit, dass einer hinter uns steht. Alles schon vorgekommen!
Es passiert oft, dass während der Übergabe bereits gesagt wird: »Wir warten auf den Doktor schon seit drei, vier oder fünf Stunden.« Und irgendwann ist man dann als Pfleger mit seinem Latein am Ende. Wenn es einem Patienten schlecht geht, wenn er Schmerzen hat, kann man zwei, drei Mal Novalgin, Perfalgan oder Tramadol geben, doch irgendwann geht es nicht mehr. Man kann den Patienten nicht unendlich leiden lassen, dann greift man auch schon mal zu Mitteln, die nicht schriftlich angeordnet sind, Betäubungsmitteln. Ich weiß ja aus 25-jähriger Erfahrung, was möglich ist, aber die Anordnung ist nicht da. Die Ärzte haben einfach keine Zeit, sich zu kümmern.
Schüler machen alleine Rundgänge, die nicht kontrolliert werden, die nicht von Examinierten begleitet werden. Wer soll wissen, was da läuft? Selbst Patienten berichten immer wieder, dass nicht alles gemacht wurde, was angeordnet war. Obwohl der Vorgang in der Akte abgehakt wurde! Wir müssen sehr viel dokumentieren. Ich behaupte: Mehr als die Hälfte meiner Arbeit besteht aus Schreibkram. Ich bin Krankenpfleger, ich bin kein Sekretär.
Fehler passieren im Krankenhaus, und wir haben das Gefühl, dass es so etwas wie ein Schweigekartell gibt, weil Assistenzärzte weiterkommen wollen. Die wollen eingearbeitet werden, in der Endoskopie oder in der Sonografie. Die müssen während der Ausbildung dahin. Die müssen dort lernen. Aber wenn sie viel aufmucken, wenn sie viel anrufen, wenn sie dem Vorgesetzten lästig sind, dann haben sie das Gefühl, nicht dranzukommen, blockiert zu werden. Und deswegen trauen sich manche Assistenzärzte nicht, zum Oberarzt zu sagen, dass sie mit der Menge an Arbeit überfordert sind. Aus Angst, nicht weiterzukommen, wursteln sie sich irgendwie durch.
Die älteren Ärzte kritisieren sich gegenseitig nicht, wenn andere dabei sind. Sie wollen nach unten das Signal geben, dass sie sich einig sind. Kritik üben sie wahrscheinlich hinter verschlossener Tür, aber nicht vor den Assistenzärzten.
Pfleger 2: Mit Kritik gehen die Ärzte sehr schlecht um. Ein Beispiel: Da hat ein junger Arzt Nachtdienst und muss eine Schleuse für einen externen Schrittmacher anlegen. Er hat den Vorgang bislang nur einmal gesehen und ruft seinen Oberarzt an: »Kannst du mir bitte assistieren?« Der antwortet: »Ne, das schaffst du schon.« – »Das kann doch nicht wahr sein, dass ich das einfach so machen soll.« – »Ja, wer ist denn von der Pflege da? Die können dir dabei helfen.« Also, ich war dabei, wie der junge Arzt auf die Pflege verwiesen wurde. Natürlich hat er sich am nächsten Morgen bei seinem diensthabenden Oberarzt beschwert. Er war eigentlich ein ruhiger Typ, aber die haben sich am Telefon regelrecht angeschrien.
Ich denke, Ärzte und Pflegekräfte sind wie die durchschnittliche Bevölkerung. Einige sind kritikfähig, andere nicht. Den Stress bewältigt man mal gut, mal nicht. Das ist normal. Nur: Bei uns ist ein Mensch im Hintergrund, der darunter leidet. Es kann lebensgefährlich werden für den Patienten, wenn es nicht gut läuft zwischen Kollegen. An wen sie geraten, ist dann zufällig – Glück oder Unglück.
Bei Stress, bei Konflikten sind vor allem Kollegen die ersten Ansprechpartner. Dann die Stationsleitung. Aber leider muss ich sagen: Mein Stationsleiter zuckt nur noch mit den Schultern: »Was soll ich noch machen? Ich habe schon 100-mal die Problematik geschildert. Im Laufe der Jahre so oft nach
Weitere Kostenlose Bücher