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Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Titel: Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Mikich
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getäuscht haben, für die Angehörigen, als müssten sie sich selbst in dieser Situation noch vor den anderen Patienten und dem Personal benehmen. Das einzig Private: eine Vorhangwand auf Rollen, die den Verstorbenen von den anderen abschirmte. Da häufig schwerkranke Patienten zusammengelegt wurden, passierte es mitunter, dass der eine sich den Tod des anderen zum Vorbild nahm und auch verschied. Das erzählten ihm die Schwestern, und einmal konnte Cristian das auch selbst erleben. In solchen Momenten war es besser, man brachte die anderen Patienten schleunigst in anderen Zimmern unter, zumindest falls dafür Platz war. Solange musste eben die Rollwand herhalten.
    Im Frühherbst 1989 änderte sich die Lage im Krankenhaus schlagartig. Plötzlich konnten etliche freie Planstellen auf einmal neu besetzt werden. Das lag allerdings nicht an einer Schwemme neuer Pflegeschulabsolventen, sondern vielmehr daran, dass die Ungarn beschlossen hatten, ihren Teil des Eisernen Vorhangs zu lüften. Binnen eines Monats strömten durch dieses Schlupfloch etwa 200000 DDR -Bürger über Ungarn und Österreich nach Westdeutschland, darunter eben auch zahlreiche Schwestern und Pfleger, die hier mit 100 D-Mark und Kusshand empfangen wurden.
    Von da an wurde Cristian wieder stärker im Patiententransport eingesetzt, und seine illegale Karriere als Krankenpfleger-Assistent endete. Die Arbeit wurde langweiliger, aber er war erleichtert, denn das Risiko, das ihm bei der Versorgung von Patienten stillschweigend zugeschoben worden war, war ihm sehr bewusst.
    Julian hat sich noch während seines Dienstes als Bufdi dafür entschieden, den Krankenpfleger-Beruf zu ergreifen. Im Herbst 2012 fängt er seine Ausbildung an. Ausgebildet wird er am selben Krankenhaus, in dem er ein Jahr lang den Freiwilligendienst absolviert hat. Er verdient nun das Doppelte, aber er trägt auch mehr Verantwortung, und er hat sein Ziel vor Augen: den Beruf, den er schon lange anstrebt.
    Seine Erfahrungen haben ihn nicht abgeschreckt, sondern aufmerksam gemacht für das, was man in Zukunft ändern müsste, und sie haben ihn sensibilisiert für das, was er sich bewahren muss, allem voran sein Menschenbild. Ihm ist klar, dass er viele von den wirklich unangenehmen Tätigkeiten nicht hatte ausführen müssen in diesem Bufdi-Jahr. Er musste Kranken nicht Erbrochenes aus dem Hals fingern oder eitrige Wunden säubern, er musste kaum Blut aufwischen, und er war nur einmal mit in der Kühlhalle im Keller, in der die Leichen aufbewahrt werden. Das wird sich nun ändern. Aber er wird auch direkt beteiligt sein daran, Menschen wieder gesund zu machen. Und er wird sich von innen gegen ein System stemmen können, in dem das Gesund-Machen immer schneller gehen muss, ohne dass Zeit bleibt, den Verstand und die Seele der Menschen mitzunehmen. Julian hat sich dafür entschieden, im Wohnheim neben dem Krankenhaus zu leben, einen Schritt hinaus zu machen aus dem Elternhaus, das nur ein paar Kilometer entfernt liegt. Er möchte ganz nah dran sein, auch mal kommen, wenn nachts oder am Wochenende etwas passiert. Er ist der Einzige der Bundesfreiwilligen an seinem Krankenhaus, der die Ausbildung absolviert. Nun ist er eine Stufe höher gestiegen, hat selbst mit Bundesfreiwilligen zu tun. In diesem Jahr ist es eine ältere Frau, die ihre Rente aufbessern möchte, eine Hausfrau, die nie zuvor gearbeitet hat, und ein junger Mann, der gerade von der Schule kommt. Der erinnert ihn sehr an sich selbst vor einem Jahr. Ohne Bufdis, das weiß er, wird es auch in den nächsten Jahren kaum gehen. Solange sich im System nichts ändert, sind sie sowohl wegen ihrer Tatkraft, mehr aber noch wegen der Zeit, die sie ins Krankenhaus tragen, unentbehrlich. Während seines Jahres hatte es immer Mitarbeiter gegeben, die auf die Bufdis herabgesehen haben. Das will Julian nicht wiederholen.
    Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen den Krankenhauswelten, die Cristian und Julian erlebt haben. Vor allem der Aspekt »Zeit« spielt eine entscheidende Rolle. War sie allerdings zu Cristians Zeiten knapp, weil die Krankenhäuser nicht genug Personal fanden, wurde später, seitdem das Krankenhaus zum Geschäftsbetrieb geworden war, mit der knappen Zeit kalkuliert.
    Ähnliches trifft auch auf die beiden Institutionen Zivildienst und Bundesfreiwilligendienst zu. Cristian hat miterlebt, wie aus der politischen Notwendigkeit, dem Wehrdienst eine zivile Alternative gegenüberzustellen, in den 80er Jahren quasi im Handumdrehen eine

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