Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Bufdi dabei sein, um den Umgang mit dem Patienten zu studieren, wie der Chef verlauten lässt. Und dabei erfährt Julian, dass man bereit ist, jeglichen medizinischen Weg zu gehen, der hilfreich erscheint, selbstverständlich auch jenseits der üblichen Behandlung.
Wie lukrativ Privatpatienten für ein Krankenhaus sind, scheint nicht nur den Chefärzten in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. Während eines Transportes zum Röntgen erzählt ihm ein Patient aus der Chirurgie von einem Erlebnis, als er wegen seines Schienbeinbruchs ins Krankenhaus gekommen war. Er war privatversichert, wollte aber auf die Chefarztbehandlung verzichten, da er gehört hatte, dass Oberärzte bei solchen Eingriffen oft sehr viel routinierter vorgingen. »Na, Sie müssen ja selbst wissen, was Ihnen Ihre Gesundheit wert ist«, bekam er schon bei der Aufnahme zu hören. Spielt man hier mit der Angst vor dem medizinischen Unterschied, oder gibt es diesen Unterschied wirklich?
Ein Unterschied in der Behandlung ist jedenfalls, dass man Privatpatienten auch im Krankenhaus immer genau zum vorgesehenen Termin zu einer Untersuchung bringen soll, während Kassenpatienten, wenn es ihr Gesundheitszustand zulässt, quasi am Fließband zu den Behandlungen gefahren werden. Julian holt einen nach dem anderen aus seinem Zimmer, manchmal in einer ganzen Gruppe, und liefert die Patienten beispielsweise in der radiologischen Abteilung ab. Die lange Schlange, die sich dann dort bildet, wird den Vormittag über abgebaut, sodass sich für den Behandler niemals eine ungenutzte Zeitlücke auftut.
Wenn der Tod sich einschleicht
Die prägendste Erfahrung aber, die Julian in den ersten Monaten seiner Bundesfreiwilligen-Zeit macht, ist die erste Begegnung mit dem Tod. Plötzlich stirbt einer, der mit der Zeit zu einem guten Bekannten geworden ist. Er ist eine Ausnahme, denn der 78-Jährige war Privatpatient gewesen und trotzdem so dankbar über Julians Einsatz, dass er ihn regelmäßig mit Lob und kleinen Geschenken bedacht hatte.
Der Mann war ursprünglich wegen eines chirurgischen Eingriffs ins Krankenhaus gekommen, eigentlich Routine, wie der Arzt Julian sagt. Aber die Wunde will nicht heilen. Immer wieder wird der Patient nach Hause geschickt, immer wieder kommt er zurück auf die Station. Bei einem der Aufenthalte wird Darmkrebs diagnostiziert. Aber anders als andere Patienten, die schon wegen eines Knochenbruchs verzweifeln, bleibt der alte Mann gefasst. »Ich schaffe das schon«, beteuert er immer wieder. Julian beeindruckt das sehr. Die Ärzte debattieren lange, ob seine allgemeine Konstitution eine weitere Operation zulassen würde, und vielleicht hätten sie den Eingriff längst vorgenommen, wenn nicht die Schwestern entschieden gegen die aus ihrer Sicht unnötige Qual des Patienten protestiert hätten. Der Tod des Mannes beendet jäh die Diskussion. Julian ist im Zimmer, als er die letzten Atemzüge macht. Er kann sich vom Anblick des sich in unregelmäßigen Abständen hebenden und senkenden Brustkorbs nicht losreißen. Auch eine Krankenschwester ist dabei und eine Enkelin des Sterbenden. Als die Schwester den Tod feststellt, wirft sich die Enkelin Julian weinend in die Arme. Es ist dieses Bild, das ihn nach seiner Bundesfreiwilligenzeit am meisten beschäftigen wird. Würde er, wenn er später wirklich im Krankenhaus seinen Beruf ergreift, Professionelles von persönlichen Gefühlen trennen können? In den Augenblicken nach dem Tod des Patienten hegt er große Zweifel daran, denn am liebsten würde er nicht trösten, sondern selbst getröstet werden.
Auch früher wurde im Krankenhaus gestorben. Im heißen Sommer 1989 in einer Frequenz, die den Zivildienstleistenden Cristian tief beeindruckte. Dies lag sicher auch daran, dass die Patienten länger blieben und nicht, sobald es ihr Gesundheitszustand erlaubte, in Pflegeheime überwiesen wurden. Den Angehörigen gab dies manchmal die Zeit, in Ruhe zu entscheiden, was mit dem Kranken geschehen sollte, und den Patienten gab dies manchmal die Zeit, während dieser Entscheidungsphase in Ruhe zu sterben. In den ersten Wochen verlor die Innere Station auf diese Weise dreizehn Patienten, mehr als zwei pro Woche. Cristian lernte, wie Krankheit zum Leben gehört und das Sterben zur Krankheit. Doch so wichtig er auch das Krankenhaus empfand, so ungeeignet fand er es doch als Ort für den Tod. Denn dieser Ort blieb anonym. Für die Patienten war es, als würde man sie durch das Versprechen, gesund zu werden,
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