Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Katastrophenstimmung, besonders belastend sei die Unklarheit, wer nun kaufen und was nun kommen würde.
Zwar sollen die Bereiche »Lehre und Forschung« weiter in der Verantwortung des Landes stehen, aber sobald Patienten betroffen sind, hat in Zukunft der private Konzern Mitspracherecht, und Neubauer weiß nicht, wie unter der Rationalisierungsprämisse noch klinische Studien durchgeführt und Studenten am Patienten ausgebildet werden sollen.
Eine Notwendigkeit, das Klinikum zu verkaufen, sieht er im Übrigen ohnehin nicht. Und in der Tat: Die Uniklinik in Marburg hat die Einführung der Fallpauschalen gut verkraftet. Sie ist die einzige unter den 32 deutschen Universitätskliniken, die zu diesem Zeitpunkt schwarze Zahlen schreibt. Investitionen von mehreren hundert Millionen Euro sind in den letzten Jahren von Land und Bund geflossen und haben Marburg fit für die Zukunft gemacht. Warum also privatisieren? Warum gerade jetzt?
Der Grund dafür findet sich 30 Kilometer südlich, in Gießen. Fährt man über das weiträumige Gelände der dortigen Universitätsklinik, beschleicht den Betrachter schnell die romantische Anmutung eines Freilichtmuseums. Zahllose kleinere und größere Gebäude aus allen möglichen Epochen der letzten Jahrhunderte bedecken den Klinikhügel wie eine kleine Spielzeugstadt. Guckt man genauer hin, hat die Nostalgie bald ein Ende. Von den Wänden blättert der Putz, Rollläden hängen traurig herunter, und Eisengitter rosten ungeschützt vor sich hin. Was sich draußen schon zeigt, findet drinnen seine Fortsetzung. An den Decken der Flure kleben braune Stockflecken, Linoleumböden sind aufgerissen, in den Operationssälen fallen die Fliesen von den Wänden. 200 Millionen Euro Investitionsstau haben sich angehäuft, 200 Millionen Euro, die die Koch-Regierung und ihre Vorgänger hier nicht investiert haben. Diese Summe ist das Hauptargument zur Rechtfertigung des Verkaufs. Sie wäre für das Land kaum aufzubringen, wird die Regierung nicht müde zu behaupten, bis heute. Zu bezahlen, so heißt es aus der Staatskanzlei, wäre mit Mühe gerade mal die Aufrechterhaltung der Krankenversorgung im laufenden Betrieb. Für Investitionen darüber hinaus bliebe kein Geld. Die aufgelaufene Summe belege überdies, dass zwei Unikliniken in unmittelbarer Nähe nicht tragfähig seien. In der Rückschau wirkt diese Argumentation reichlich unglaubwürdig, denn Koch selbst legte wenig später, im Jahr 2007, ein Investitionsprogramm für die hessischen Hochschulen in Höhe von drei Milliarden Euro auf, das leichthin die Investitionen in die Universitätskliniken als wichtige Ausbildungsstandorte mit hätte auffangen können.
Sehnsüchtig geht 2005 also der Blick der Gießener nach Marburg, wo man in den vergangenen Jahren mehrere hundert Millionen Euro an Landes- und Bundesmitteln eingestrichen hat. Da man hier, in der »Pavillonsiedlung von Schrottwert«, wie der Gießener Betriebsrat Klaus Hanschur seine Klinik damals nennt, seit Jahren unter der kurzen Landesleine leidet und immer wieder vergeblich auf dringend nötige Reparaturen und Neuanschaffungen hingewiesen hat, sieht man einer Fusion mit dem nahegelegenen und besser ausgestatteten Marburger Uniklinikum mit Zuversicht entgegen. Auch weil die Landesregierung dem unrentablen Klinikum, in das sie kaum noch investiert, offen mit Schließung droht. Und hört man sich auf dem Gelände um, glaubt selbst hier kaum einer daran, dass die Klinik unter den momentanen Voraussetzungen noch eine lange Lebenserwartung hat.
Die Meinungen, wie der Umschwung erreicht werden kann, gehen allerdings weit auseinander. Vor allem die Ärzteschaft bevorzugt eine Privatisierung ohne Marburg. Hintergrund ist der seit 400 Jahren währende Wettbewerb der beiden Standorte, in dem Marburg seit einigen Jahren die Nase vorn hat. In einer Privatisierung und den damit möglicherweise einhergehenden Investitionen sehen die Gießener Ärzte die Chance, die ehemalige Vormachtstellung in der Region zurückzuerobern.
Die meisten anderen Angestellten hätten lieber eine Fusion mit Marburg; ob man sich nun in die Arme des stärkeren Partners wirft oder nicht, scheint hier zweitrangig, Hauptsache, die Arbeitsplätze werden gesichert. Warum das fusionierte Klinikum gleich verkauft werden soll, erschließt sich ihnen nicht.
Unstrittig ist, dass bei einer Fusion auch ohne Privatisierung viel gespart werden könnte. Denn nicht alle Strukturen müssten an beiden Standorten vorgehalten werden, man
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