Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
inzwischen jedem meiner Freunde bei, der in die Klinik muss, oder auch nur zu einem wichtigen Arztbesuch. Ich bin nicht der Typ, der sich einem Verein anschließt oder ein Ehrenamt übernimmt, aber ich will etwas tun für Patienten, die wenig Anhang haben. Ich gehe einkaufen oder besorge etwas für Leute, die ich nur vom Hörensagen kenne und wahrscheinlich außerhalb des Krankenhauses kaum wiedertreffen werde. Wenn die Mutter eines Bekannten im Krankenhaus liegt und den Arzt nicht gut versteht, bin ich am nächsten Tag da und hole ihr die Informationen. Wenn ein Kollege in die Kurzzeitpflege muss, lese ich im Internet alles dazu und erkläre, warum er nicht das gesamte Kontingent von 28 Tagen in Anspruch nehmen soll, sondern vielleicht 14 Tage für die Zeit nach der zweiten Bestrahlungsrunde »aufbewahrt«. Ich mache mich halt schlau und kann dann die richtigen Fragen stellen. Aber ich wage nach wie vor zu bezweifeln, dass ich dieses kritische Auftreten hätte, wenn ich selbst die Betroffene wäre, wenn ich Schmerzen hätte. Ich glaube, dass ich in solch einem Augenblick auch wieder klein und arm und ängstlich bin.
Die Geschichte vom erloschenen Leuchtturm
Zur Privatisierung des Universitätsklinikums Gießen-Marburg
Einer der heißesten Tage des spät erwachten Sommers 2012 neigt sich dem Ende zu. Für diejenigen, die an diesem Montag nicht im Urlaub sind, dürfte die Verlockung groß sein, den Abend mit Freunden und Familie draußen in der Nähe des kleinen Flusses zu verbringen, der sich wie eine kühle Ader durch die Stadt schlängelt und dessen Ufer dicht mit alten Laubbäumen bewachsen sind. Stattdessen strömen Scharen von Bürgern zu ungewöhnlicher Zeit in die gotische Elisabethkirche im Herzen Marburgs an der Lahn. Sie kommen zum Beten. Aber es ist kein gewöhnliches Gebet: Es ist eine Protestveranstaltung.
Angelehnt an die Montagsdemonstrationen in Leipzig treffen sich seit Monaten Menschen jeden Alters und aller Schichten und Szenen in dieser ältesten rein gotischen Kirche Deutschlands.
Marburg hat schon viele Demonstrationen gesehen. Stets war diese geschichtsträchtige Studentenstadt ein Zentrum politischer Meinungsäußerung. In den Siebzigern ging es um die Frauen- und Friedensbewegung, in den Achtzigern um Umweltschutz, Atomenergie, Pershing- II -Raketen, in den Neunzigern um den Irak- und später um den Afghanistankrieg. Aber jetzt ist es anders: Jetzt geht es um Marburg.
Doch was treibt die Menschen seit Monaten und zu Hunderten zu diesem Schritt? Gegen was muss man hier, in dieser beschaulichen, mittelalterlichen Stadt, in der sich Fachwerkhaus an Fachwerkhaus neigt, demonstrieren, für was sich solidarisieren? Der Star dieser Demonstrationen, der Held dieser Geschichte ist nicht zugegen. Es ist die Universitätsklinik, die sich auf den Lahnbergen gegenüber dem Marburger Schloss erhebt. Um sie wird gerungen, seit Jahren – seit sie zunächst mit der 30 Kilometer entfernten Uniklinik in Gießen fusioniert und dann 2006 vom Land Hessen an einen privaten Klinikkonzern verkauft und damit privatisiert wurde, als erstes und bislang einziges Universitätsklinikum in Deutschland. »Ein Leuchtturmprojekt«, schwärmte der damals verantwortliche Ministerpräsident Roland Koch. Die Menschen in der Elisabethkirche sehen den Leuchtturm längst erloschen.
Beim Eintritt in die Kirche umfängt die Besucher ein kühler Hauch. Die sandsteinernen Säulen wachsen 20 Meter in die Höhe und heben das gotische Deckengewölbe mit Leichtigkeit empor. Kein überflüssiger Schmuck stört die protestantische Nüchternheit. Durch die alten Fenster der Seitenschiffe und die neueren des Hauptschiffs fällt warmes, gelbes Licht.
Wo gerade an den Wochenenden reihenweise Plätze leer bleiben, sind nun alle Stühle, die die Kirchengemeinde zu bieten hat, dicht an dicht gestellt. Und sie sind besetzt. Die etwa 500 anwesenden Menschen sitzen nicht nur auf den Stühlen und Bänken, sondern auch auf den Steinabsätzen am Rande des Mittelschiffs, und die, die keinen Platz mehr ergattern konnten, stehen.
Die Forderung der Demonstranten ist schnell ausgemacht: Der Eingangsbereich und einige Säulen sind beklebt mit Plakaten, auf denen »Rückkauf jetzt« steht, »es reicht!«. Die Stimmung ist aufgewühlt, aber friedlich.
War die Situation ähnlich Ende der 80er Jahre in Leipzig? Warum wird gerade diese Tradition heraufbeschworen? Ist es legitim, sich an diese einzigartige revolutionäre Stimmung, die zum Ende der Teilung
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