Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
ist gut. Aber sie wird in den Großkliniken immer unüberschaubarer wegen der Zunahme von diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten. Noch einmal: Der Patient ist krank, nicht sein Organ. Ein Patientenlotse könnte das Ganze sehen.
Der Anwalt
Dr. Boris Meinecke
Sein großer Konferenzraum weckt sofort das Bedürfnis, höflichste Umgangsformen an den Tag zu legen. Achtung, Erfolgsmodell! Hier ist Solidität schon seit Jahrzehnten zuhause! Hier werden Schlachten geplant und Kriege zum erfreulichen Abschluss gebracht! Die Wände sind holzgetäfelt, in schweren Vitrinen steht altes Porzellan. Schön ist der Blick durch die großen Terrassenfenster mit ihren zarten Glasmalereien. »Hierher bringe ich immer die Vertreter der Gegenseite«, witzelt der Anwalt. »Sie sollen nicht denken, dass sie mit kleinen Vergleichssummen Eindruck machen.«
Der Weg zum Anwalt ist von diffusen Wünschen eingefärbt. Der eine Geschädigte braucht finanzielle Hilfe, weil ein falsch gelaufener Eingriff sein Leben umgekrempelt hat und nun Pflege, Hilfsmittel oder Profis eingekauft werden müssen, um den Alltag zu bewältigen. Ein anderer möchte die Genugtuung, dass ein Arztfehler öffentlich gemacht wird. Ein Dritter will verhindern helfen, dass sich eine menschliche Tragödie wiederholt.
Die individuelle Zivilklage ersetzt keine Qualitätskontrolle und macht auch einen Pfusch, einen privat erlebten Horror nicht wett. Doch das Gefühl, wenigstens etwas Gerechtigkeit wiederherzustellen, schenkt Kraft. Der Enteignung im Krankenhaus verbrieftes Recht entgegenzuhalten heißt, Kontrolle zurückzugewinnen. Oder wie es in meiner Jugend hieß: »Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.«
Dr. Boris Meinecke mag große Gegner. Seine Kanzlei betreut zurzeit etwa 2000 Mandantinnen und Mandanten aus ganz Deutschland. Es soll Klinikdirektoren geben, sagen mir befreundete Ärzte, die Magenschmerzen bekommen, wenn ein Fax mit seinem Briefkopf auftaucht. Ich will aber von diesem Anwalt nicht wissen, wie oft er einen Fall gewonnen oder verloren hat, sondern das Prozesshafte seines Tuns besser verstehen. Welche Mechanismen machen ein Opfer stark, welche behindern Aufklärung?
Auf den Staat und auf die Ärztekammern sollte man sich dabei nicht zu sehr verlassen. Im Frühjahr 2013 tritt das neue Patientenrechtegesetz in Kraft; mit viel Trara verkaufte das Bundesgesundheitsministerium das Gesetz als wesentliche Stärkung der Patientenrechte. Für Laien liest es sich wie eine gute Übersicht, immerhin. Für juristische Profis bietet es nichts Neues. Ein »Besinnungsaufsatz«, so mokiert sich Boris Meinecke. Als Mogelpackung empfindet er auch die Arbeit der Schlichtungsstellen, die von den Ärztekammern und Versicherungen ins Leben gerufen wurden, um Behandlungsfehler zu prüfen. Nach außen sind solche Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen neutral. De facto aber neigen sie dazu, die Ärzte mit Kritik zu verschonen. Die falsch verstandene Kollegialität unter Medizinern trägt dazu bei, dass sich Patienten ihrer Rechte unsicher sind.
Das Schweigekartell funktioniert weiter
Protokoll einer falschen Kollegialität
Ein italienischer Müllmann kam zu uns und sagte: »Meine Frau ist schwer geschädigt. Bei der Geburt ist etwas passiert.« Die Frau lag im Koma, das Kind schwer geschädigt. Ein entsetzlicher Fall. Er hatte eine Bekannte im Krankenhaus und sich vorsorglich die Behandlungsunterlagen kopieren lassen. Daraufhin haben wir die Akte noch mal offiziell angefordert. Und siehe da, es gab ein komplett neues CTG. Das CTG ist dieser Herz-Wehen-Schreiber, und der lag nun abgeändert vor. Und da haben wir das Krankenhaus angeschrieben und die zwei Versionen thematisiert – mit dem Hinweis auf Urkundenfälschung. Sollten wir zum Staatsanwalt gehen, oder würde das Krankenhaus die Ansprüche schnell und unbürokratisch regulieren? Damit war unseren Mandanten ja mehr gedient. Denn das, was da passiert war, blieb eine Urkundenfälschung. Gut, der Fall wurde dann sehr schnell reguliert. Man konnte nicht rückgängig machen, was geschehen war. Aber die Familie hatte wenigstens die notwendige, finanzielle Unterstützung, die sie dringend benötigte.
Ich nehme ein anderes Beispiel: Eine Mandantin schilderte völlig glaubwürdig, dass ihr die Gebärmutter ohne Einverständnis entfernt worden war. Sie war im Krankenhaus, weil sie diffuse Beschwerden hatte. Zur Abklärung wurde eine Laparoskopie durchgeführt. Danach hatte sie stärkere Beschwerden als vorher.
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