Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
und bevor er etwa einen Schrittmacher kriegt, möchte ich mit ihm zum Gastroenterologen.« Aber die Kardiologen gaben den nicht preis: »Nee, den schicken wir mal zum Röntgen.« Und der Patient steht in der Röntgenabteilung und weiß nicht, wie ihm geschieht.
Aber angenommen, er hat etwas an der Leber, eine Kolik. Der Schmerz projiziert sich ja aufs Herz oder oberhalb und unterhalb des Zwerchfells. Es ist doch schwierig, eine richtige Diagnose schnell zu finden!
Der Patient landet in diesem Fall in einer anderen Abteilung und ist für die Kardiologen verloren. Es ist also eine Zusatzleistung erforderlich, die aber nicht in das Gebiet der Kardiologie fällt und darum nicht beachtet und interpretiert wird. Dahinter stehen ökonomische Zwänge, aber auch eine sportive Konkurrenz zwischen den Abteilungen. Und damit ist der Patient der Dumme.
Besser wäre doch, wenn – vorgeschaltet – ein aufnehmender Arzt käme. Mit einer guten allgemeinmedizinischen Ausbildung, kein Spezialist. Natürlich gibt es die Notaufnahme, aber keinen Arzt, der bei einer unklaren Symptomatik entscheidet, wohin der Patient als Erstes soll. Einer, der den Patienten durch die verschiedenen Abteilungen begleitet und nach den Untersuchungen mit ihm zurück zum Anfang geht und entscheidet, wohin der Patient gehört. Also derselbe über das gesamte Behandlungsspektrum betreuende Arzt, mit dem der Patient ständig reden kann. Ein Patientenlotse.
In meiner Zeit in den USA galt allemal in New York die Regel, dass ein Patient sich primär immer an den Hausarzt zu wenden hatte – Fachärzte waren damals im Telefonbuch nicht gelistet! Der Hausarzt überwies den Patienten an seine Fachkollegen, behielt aber stets den Überblick über den Stand der Diagnostik und auch über die empfohlene Behandlung.
An der Mayo-Klinik in Rochester ging man noch weiter. Jeder neu aufgenommene Patient wurde einem Kliniker mit breiter Erfahrung vorgestellt, der nicht nur die Steuerung des Patienten durch verschiedene Abteilungen übernahm, sondern ihn selbst immer im Blick behielt. Er war der ärztliche Patientenlotse für den gesamten Klinikaufenthalt des Patienten und stand diesem ständig zur Verfügung. Von allen mir bekannten Patienten ist diese Vorgehensweise begrüßt worden; sie wussten sich in vertrauten Händen.
Da kam zum Beispiel der sehr prominente N. mit einem schwierigen Magengeschwür. Er wurde von einem aufnehmenden Arzt, von einem Internisten beguckt. Der hat ihn durch die gesamte Diagnostik begleitet, er war der verantwortliche Arzt. Die anderen waren sozusagen Helfershelfer. Verantwortlich war er auch im juristischen Sinn, als behandelnder Arzt. Natürlich nicht dafür verantwortlich, wenn ein Chirurg ein Tuch im Bauch liegen lässt.
Die Mayo-Klinik war die erste mit diesem System, eine Art Leuchtturmprojekt. Ich habe das selbst miterlebt bei einem Patienten mit einer schlimmen Bauchspeicheldrüsensache. Der aufnehmende Arzt hat mit mir die Strategie besprochen. Er war durchgehend verantwortlich. Finde ich ein prima Prinzip und auch für den Patienten beruhigend. Er hat immer denselben, an den er sich wenden kann. Ist in Deutschland nicht durchführbar. Warum? Weil die Chefärzte in den Krankenhäusern eine Position haben, die ihnen sehr viel Selbständigkeit in ihrem Fachgebiet einräumt, da kann ihnen keiner reinreden. Das ist in Ordnung, aber eben nur für ein Teilgebiet.
Die Spezialisierung hat zugenommen, und in der Regel werden nur Teilaspekte eines Krankheitsgeschehens bedient. Der Spezialist mit seinen Detailkenntnissen sieht nicht mehr den Patienten in seiner Ganzheit. Der aber ist als Mensch krank und nicht nur sein Organ oder Organsystem. Die fragmentierte Sichtweise kann dann bei nicht so glasklaren Diagnosen nach der Aufnahme zu einer Vielzahl von für den Patienten nicht verständlichen Maßnahmen führen. Diese Erfahrungen habe ich bei vielen Einweisungen von aus- und inländischen Patienten in deutsche Universitätskliniken immer wieder gemacht. Anrufe der verzweifelten Patienten, die nicht wussten, warum sie plötzlich erneut ins MRT sollten oder vom Gynäkologen zum Chirurgen, gingen bei mir ein und haben mich tagelang auf Trab gehalten. Es war – zugegeben – mühevoll, die Klinikärzte auf die strategische Ausrichtung ihres Behandlungsansatzes anzusprechen.
Klar, wenn einer mit einer kaputten Hüfte ins Krankenhaus geht, braucht der keinen begleitenden Arzt. Aber alles, was auf eine unklare Diagnose hinausläuft, bedürfte
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