Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
der Vorselektion durch einen Arzt, der auch die Steuerung zu den Fachabteilungen regelt.
Bezahlbar wäre das schon. Man könnte Ruheständler ansprechen, ältere Semester. Die müssen ja kein Vermögen verdienen. Aber sie sollten Bestandteil des Behandlungsplans werden. Ein Patientenlotse sollte mit den Chefärzten reden und dafür sorgen, dass sie sich interdisziplinär verabreden und feststellen: »Wir haben hier drei Probleme, welches ist das wichtigere? In welcher Reihenfolge wickeln wir das ab?« Und der dem Patienten sagt: »Wir wissen noch nicht, was los ist. Aber es wird sich von allen Seiten gekümmert, machen Sie sich keine Sorgen.« Einer, den der Patient also immer ansprechen kann und der stets den Überblick behält.
Gelernt habe ich dieses Konzept auch durch die Kinderleukämie. Dort ist es ganz einfach. Radiologen, Hämatologen, Laborärzte, Immunologen, Genetiker und alle sonstigen Beteiligten sitzen zusammen. Einer ist später sozusagen die Lokomotive, aber er drückt die anderen nicht an die Wand; es soll eben diskutiert werden. In Münster habe ich das auch bei der Behandlung von Raissa Gorbatschowa so erlebt, und daraus ist dann die Cancer Cooperative Group entstanden. Gynäkologen arbeiteten mit Orthopäden, die es mit Knochenkrebs zu tun hatten, und mit anderen Spezialisten zusammen. Sie sahen den Patienten. Und nicht nur ein Organ. Das scheint mir das Wichtigste zu sein.
Die Idee hinter all diesen Konzepten ist umfassende Patientenfürsorge. In unserer Praxis in Bonn haben wir die Patienten immer ins Krankenhaus begleitet. Sie wurden auch von uns besucht. Ich hatte nicht mit einer so großen Resonanz bei den Patienten gerechnet; aber als ich zigmal in diesem Vorgehen bestätigt wurde, war ich überzeugt, an dieser Lotsenrolle muss etwas dran sein.
Aber wenn Sie zuallererst und auf sich allein gestellt auf einen Chirurgen treffen, dann haben Sie ein Problem. Sie selber sind orientierungslos, die Ärzte sind vielleicht muffig. Chirurgen sind besonders forsch: »Machen Sie sich keine Gedanken, wir machen das alles raus.« Da wird sehr salopp vorgegangen. Andere, die Angsthasen, sagen: »Das ist wahrscheinlich Krebs.« Solch eine Aussage würde ich vor dem histologischen Befund niemals machen, unmöglich. Grauenvoll. Danach schließt man doch als Patient ab. Das war es.
Ursache ist neben der schon angesprochenen Spezialisierung auch die Apparatemedizin. Einer meiner Patienten geriet einem Katheterfritzen in die Finger. Der hat alle drei Monate Katheter gemacht, dafür bestand überhaupt keine Indikation; aber alle drei Monate wollte er den Stent prüfen. Und dann standen auf der Rechnung zwei Kardiografien an einem Tag. Überdiagnostiziert, übertherapiert. Und die Kassen zahlen. Auch das bestätigt meinen Ansatz: Einer muss bei der Aufnahme steuern. Und zwar einer, der nicht zu den Fachabteilungen gehört.
Als ich ungefähr 68 war, hatte ich einen Fettknubbel im Rücken und wollte wissen, was das ist. Meine erste Vorsorge im Leben. Konnte es ja nicht selbst sehen. Bin also zur Klinik, man legte mir dort einen Behandlungsplan vor, dessen Reihenfolge ich nicht nachvollziehen konnte. Der Klinikchef war ein Radiologe. Schon schlecht, denn Radiologen haben mit Patienten wenig zu tun. Der krempelte auch das Krankenhaus völlig um, entließ Pfleger, wollte sparen und war auf Gewinnmaximierung aus, Abteilungen wurden zusammengestrichen, wie bei den großen Konzernen. Darum sind mir konfessionelle Krankenhäuser lieber, sie sind viel besser. Diagnostische Zusatzleistungen kann man sich ja extern inzwischen auf Abruf bestellen. Also eine zweite Meinung, eine Mitbeurteilung.
Jedenfalls, ich hatte nichts … Im Arztbrief stand keine Bewertung, nix. Ich hätte als Oberarzt einen solchen Brief nicht durchgehen lassen. Dort gehört eine Anamnese hinein, die Befunde und eine zusammenfassende Beurteilung.
Der Patient wird also in Teile zerlegt, und niemand ist da, der alles wieder zusammenführt. Sie müssen zum Beispiel mit Ihren Bauchbeschwerden zum Röntgen, zum Ultraschall, zur Koloskopie, zur Gastroskopie. Niemand ist da, der das Ganze zusammenführt. Die funktionelle Störung wird übersehen.
Deshalb plädiere ich für den ärztlichen Patientenlotsen an den großen deutschen Kliniken, der die Patienten von der Aufnahme bis zur Entlassung begleitet. Er sollte kein Spezialist im engeren Sinne sein, sondern ein Internist mit breiter klinischer Erfahrung.
Ja, die medizinische Versorgung in Deutschland
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