Entfernung.
Milch haben wolle, dann ginge er die besorgen. Er stand mit den Bechern in den Händen. Selma nahm einen entgegen. Sie wies auf den Sessel, auf dem die alte Frau gesessen war. Das wäre doch ein ganz wunderbarer Platz. Oder? Und wie es ihn hierher verschlagen habe. Ob sie die Nachricht nicht bekommen habe, fragte er. Er hätte frühstücken wollen. Selma schaute auf die Wiese hinaus. Sie nippte am Kaffee. Sie wäre gestern so spät zurückgekommen. Man habe ihr da einen Zettel in die Hand gedrückt, aber sie könne sich nicht so genau erinnern. Und am Morgen hätte sie aus dem Zimmer müssen. Die Klimaanlage. Sie müsse da immer schnell hinaus. Er habe aber doch nicht mehr angerufen. Bei ihr. Oder? Er hätte versucht, sie zu erreichen. Ihr handy hätte nicht. Ach ja, meinte Selma. Sie wäre in einem Club in einem Keller gewesen. Vielleicht hätte es da keinen Empfang. London wäre schon eine tolle Stadt. Tommi lehnte sich zurück. Er streckte die Beine aus. Verschränkte die Arme. Stützte den Kaffeebecher auf dem linken Arm auf. Er saß, wie die alte Dame da gesessen war. In der selben Haltung. Selma schaute an ihm vorbei auf die Wiese. Es würde wieder ein heißer Tag werden. Sie sah ihn an. Es gäbe auch Frühstück hier. Er könne sich hier ein Frühstück besorgen. Sie könne das Croissant nicht empfehlen, aber das englische Frühstück. Das habe alles gut ausgesehen. Wenn man Speck mochte. Nein. Um Frühstück wäre es nicht gegangen. Er hatte sich nur gedacht. Und er hatte sich nicht aufdrängen wollen. Selma kaute am Wulst des Plastikbechers. Genau das hast du getan, dachte sie und biss in den Wulst. Das hast du aber getan. Mehr an Aufdrängen gibt es nicht. Aber es sei schon erstaunlich, dass er sie hier. Sie sah ihn an. Er schaute sie nicht an. Er schaute vor sich hin. Er habe schon lange mit ihr sprechen wollen, sagte er. Er habe diese Gelegenheit. Er habe diese Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen wollen. Sie wüsste ja, dass sein Vater gestorben war. Selma saß ruhig. Sie hatte das nicht gewusst. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie davon gehört hatte. Sie wollte sich aber nichts anmerken lassen. Es nicht zu wissen. Nichts vom Tod vom Onkel Gustl zu wissen. Das machte das alles so wichtig. Und beleidigend. Ob sie etwas von diesen Redereien gehört hätte. Er hätte dann seinen Vater nicht mehr fragen können. Nicht mehr richtig fragen. Das war dann am Ende nicht mehr möglich gewesen. Sie wüsste ja, wie das dann sei. Selma setzte sich auf. Sie saß gerade. Aufrecht. Sie hielt den Becher mit beiden Händen. Worauf das hinaussollte, fragte sie. Worauf Tommi hinauswolle. Der Mann schaute vor sich hin. An ihm nage das, sagte er. Er müsse gestehen, an ihm nage das. Er hätte sich das nie gedacht. Er hätte nie erwartet, dass solche Dinge wirklich wichtig werden konnten. Wichtig seien. Aber er müsse zugeben. Ob sie überhaupt Zeit hätte. Er wandte sich ihr zu. Drehte sich in seinem Sessel und sah sie an. »Kurz.« sagte Selma. Sie habe um 9 Uhr 30 einen Termin. Sie müsse also bald weiter. Ja. Er wolle es kurz machen. Er sah auf den Boden zwischen ihnen. Selma konnte auf seinen Kopf sehen. Von oben. Die Kopfhaut hell. Die Haare frisch gewaschen. Dicht. Kräftig. Ihre gewaschen gehört hätten. Ihre verklebt. Ein bisschen. Sein Vater habe ihm einmal. Ein einziges Mal. Sein Vater habe dann nie wieder darüber gesprochen. Er wäre nie wieder zu bewegen gewesen, dieses Thema. Aber dieses eine Mal. Und er wüsste nicht, ob der Mann da nicht betrunken gewesen wäre. Aber habe ihre Mutter etwas gesagt. Habe ihre Mutter je etwas angedeutet. Sein Vater habe behauptet, sie beide wären Geschwister. Halbgeschwister. Natürlich. Selma saß still. Sie hörte zu. Sie hörte zu. Das Wort Geschwister. Das Wort Halbgeschwister. Es lief Bilder entlang. Die Mutter im Spiegel. Der Vater hinter ihr. Das Spiegelbild des Vaters dem Spiegelbild der Mutter sagte. Er ginge da nicht hin. Er verbiete das. Und sie. Eine kleine Selma. Der Körper einer kleinen Selma sich zwischen den Frisiertisch und die Mutter drängend. Unter den Frisiertisch gekrochen und an den Knien der Mutter vorbei auch in den Spiegel geschaut. Und den Spiegelbildern des Vaters und der Mutter gesagt hatte, dass sie zum Onkel Gustl gehen wolle. Weil es da Krapfen gäbe. Weil die immer gekauften Kuchen bekämen. Zur Jause. Und der Vater. »Es sind nicht einmal direkte Verwandte.« Aber sie dann nie allein hingehen hatte lassen. Und sie auf die Knie der Mutter
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