Entfernung.
sich von alleine und ihre Stimme klang metallen. »Nein.« Nein. Das käme nicht in Frage für sie. Wirklich nicht. Er müsse das verstehen. Sie habe so viele Krisen zu bewältigen. Sie habe so keinen Boden unter den Füßen. Sie könne sich nicht auf so ein Abenteuer einlassen. Warum er das überhaupt wissen wolle. Wozu er das brauche. Überhaupt. Das Ansehen von Onkel Gustl in Ehren. Das Gedenken an ihn. Aber was wäre das für ihn. Der Mann setzte sich auf. Lehnte sich im Sessel zurück. Er streckte die Beine aus. Legte den Kopf zurück. Sah in die Wipfel der Platanen hinauf. In den blauen Himmel. Das Blau zackig ausgerissen. Hinter den Zweigen und Blättern der Bäume. Selma stellte den Rucksack auf den Boden. Setzte sich wieder. Sie sah mit ihm hinauf. Wie spät es sei. Ob er die Zeit hätte. Tommi hielt sich die Uhr vor die Augen. Er hob das Handgelenk und schaute zurückgelehnt. »8 Uhr 41.« sagte er. Sie saßen stumm. Der Mann schaute in die Baumkronen. Selma über die Wiese. Der Verkehr mittlerweile laut. Ein ununterbrochenes An- und Abschwellen. Die Gruppe versammelte sich vor dem Eingang zur Cafeteria. Selma konnte sie aus dem Augenwinkel sehen. Hinter den Büschen. Alle hatten Aktenmappen. Die ersten gingen nach vorne. Sie gingen den linken Hauptweg. In Richtung Universität. Paare hatten sich geformt. Miteinander sprechende Paare. Diskutierende Paare. Alle tief in die Gespräche versunken. Alle mit gebeugten Köpfen. Im Zuhören und Reden gefangen. Er bräuchte doch nur ein Haar von ihr. Oder eine Speichelprobe. Und wenn es ihr gleichgültig wäre. Ihm eben nicht. Offenkundig könne sie das nicht verstehen. Und natürlich wüsste sie nichts von seinem Leben mit seinem Vater. Und natürlich könnte sie nicht wissen, wie viele offene Rechnungen es da gegeben habe. Wie. Wie. Nun. Sie sei ja eine tolerante Person. Eine gebildete Person. Aber sein Vater wäre das nicht gewesen. Er hätte ihm bis zum Schluss Vorwürfe gemacht. Hätte ihm seine Frauengeschichten dauernd. Und da sei es wichtig. Die Wahrheit. Was daran gestimmt. Aber er sähe ein. Er müsse einsehen. Wahrscheinlich war das so nicht. Wahrscheinlich war das zu kurz gedacht. Und er hatte nur die Gelegenheit. Weil er sie am Flughafen gesehen hatte. Weil sie so sicher gewirkt. Weil sie eine so ernste Person sei. Eine zuverlässige, sichere Person. Ernst zu nehmen und ein Vorbild. Da wäre er auf die Idee gekommen. Und dass sie damit der Generation ihrer Eltern. Dass sie der damit auf die Schliche kommen hätten können. Eine kleine Demaskierung. Selma stand auf. Sie hob den Rucksack auf die Schulter. Sie verstünde ihn. Jedenfalls dächte sie, sie verstünde ihn. Aber sie lehne diese Techniken ab. Sie lehne es prinzipiell ab, die Welt so auszuspionieren. Ob sie da nicht mittelalterlich dächte, fragte Tommi. Er sah zu ihr hinauf. »Ja. Ich möchte mich weiterhin über sprachliche Mittel orientieren. Und nicht über Formeln und Daten.« Der Mann sah sie an. »Nein.« sagte sie. Sie sah ihn ruhig an. Nein. Sie lehne eine solche Maßnahme hier und jetzt und ein für alle Mal ab. Sie könne ihre Geschichte nicht einfach umschreiben. Und sie könne ihren Vater nicht so aufgeben. Sie wüsste auch nicht, was das bedeutete. Es hätte etwas mit Treue zu tun. Sie sah sich um. Auf der Wiese. Unter der nächsten Platane. Drei Männer und drei Frauen setzten sich auf das Gras. Sie bildeten einen Kreis. Sie breiteten Bücher aus. Diskutierten. Laut. Sie sprachen spanisch. Sie sahen in die Bücher. Dann auf. Sagten etwas. Sahen wieder in die Bücher auf der Wiese. Sie wolle nicht durch Laborberichte definiert werden. Das wenigstens könne sie abwehren. Und dann fügte sie hinzu, dass es ihr nicht gut gehe. Dass das alles nichts mit ihm zu tun habe. Nichts mit ihm als Person. Und sie müsse jetzt. Er habe ja ihre Nummer. Sie sollten in Wien reden. Der Mann stand auf. Er stellte seinen leeren Becher auf den Sessel. Selma sammelte die Becher auf. Stülpte seinen in ihren. Warum hatte sie wieder versucht, nett zu sein. Warum hatte sie sich angestrengt, es ihm leicht zu machen. Sie hatte sich verhalten, als ginge es um eine Trennung. Weil sie selbst ein Opfer war. Ein Trennungsopfer. Sie konnte nicht annehmen. Sie durfte nicht annehmen. Dass er. Dass er auch eines war. Es reichte nicht, alle zu Opfern zu denken, damit es keine mehr gab. Sie schwang den Rucksack über die Schulter. Er solle es gut machen, wünschte sie ihm. Sie müsse zur underground, sagte sie. Er stand
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