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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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gestützt zum Vater hinaufgeschaut und ihn angebettelt. Und die Mutter, »du kannst dem Kind doch nicht alles abschlagen.« »Oder hast du Probleme, weil wir.« »Sei nicht komisch. Wir sind auch so schon Verwandte.« »Oder dein Vater. Es hat immer geheißen, dass er.« Selma lachte. Sie lachte und schüttelte den Kopf. Was er sich da ausgedacht habe. Ihr Vater hatte immer schon behauptet, dieser Teil der Familie neige zur Dramatisierung. Nein. Ihr Vater hätte keine Probleme damit. Er hatte schließlich ihre Mutter geheiratet. Er hatte die Verwandtschaft nicht gemocht. Er hätte das Gefühlsbetonte da nicht vertragen. Oder vielleicht hätte er die Mutter nur ganz einfach für sich. Nur für sich haben wollen. Das könnte sie sich eher vorstellen. Und dass das mit den Problemen ihrer Mutter zu tun haben könne. Er wüsste doch von den Problemen ihrer Mutter. Dass die. Und da entstünden viele Gerüchte. So ein Problem. So eine Störung. Die wäre für alle doch der Freibrief, die Person. Die problematische Person in ihre Phantasien einzubauen. Das würde Tommis Vater gemacht haben. Er hatte seine Wünsche auf Selmas Mutter projiziert und dann die Wirklichkeit nicht mehr von seinen Wünschen unterscheiden können. Und im Übrigen. Sie hätte gerne Geschwister gehabt. Sie sagte das auf den gesenkten Kopf des Mannes hin. Und es stimmte nicht. Sie hatte sich nie vorgestellt, nicht mit diesen beiden Menschen allein zu sein. Sie zog sich wieder aus einer Situation. Mit so einer großzügigen Lüge. Um sich die Konfrontation zu ersparen. Sie war nicht die Schwester dieses Mannes. Und sie wollte sie nicht sein. Sie hatte seine Verfolgung ganz richtig eingeschätzt. Unangenehm. Eine Szene vor der Wiese von Russell Square. Die University of London rechts. Das British Museum. Die Wege des Bloomsbury-Zirkels. Bloomsbury Gardens weit unten. Sie konnte sich Tommi vorstellen. In weißen Flanellhosen. Ein ausgebeultes naturweißes Leinensakko. Ein Strohhut mit schwarzem Band. Weiße Sportschuhe. Ledersportschuhe. Das dünne weiß gefärbte Leder brüchig. Auf einem Gartensessel. Weiß lackiertes Holz. Alle Arten von Weiß und der Mann genau so sitzen würde. Der Dame seitlich zugewandt. Den Kopf gebeugt. Den Hut in der einen Hand. Der Arm auf dem Knie aufgestützt. Der Hut baumelnd. Oder gedreht. Die Nervosität in das Drehen des Huts in der Hand. Immer und immer gedreht. Ein Hutkreisel. Und diese langen Pausen. Alle Antworten genau gesetzt. Und dachte sie jetzt nicht eher an Henry James. Eine Mischung aus »Brideshead Revisited« und Henry James. Eine unversehrte Englischheit. Und jeder Satz peinlich ehrlich vorausgedacht, nur die Verletzungen genauer. Selma setzte sich auf. Sie setzte sich zurecht. Sie sollte das ernst nehmen. Sie sollte nicht die Gefühle ihres Vaters fortführen. Jedenfalls sollte sie die Möglichkeit in Betracht ziehen. Dass sie nicht alles wusste. Dass sie nicht alles hätte wissen sollen. Dass ihr Vater Unrecht haben konnte. Das wäre alles sehr schwierig, sagte sie. Und sie könne im Augenblick nichts mit dieser Frage anfangen. Sie sei überzeugt, dass Tommis Vater nicht Recht habe. Es könnte sein, dass ihre Mutter und er. Das wäre nicht auszuschließen. Nach allem, was sie jetzt so wüsste. Was sie begreifen hatte müssen. Über ihre Mutter. Aber sie wäre das Kind ihrer Eltern. Davon wäre sie überzeugt. Darin wäre sie sicher. Und diese Überzeugung habe nichts mit ihm zu tun. Und nichts mit seiner Familie. Die ja auch die ihre wäre. Der Mann sah zu Boden. Er hatte die Beine fest auf dem Boden aufgestellt und stützte sich mit den Ellbogen auf den Knien auf. Er hob den Kopf. Er stemmte den Kopf in den Nacken. Sah Selma ins Gesicht. »Und ein Gentest.« fragte er. Selma lehnte sich zurück. Sie fühlte sich steif werden. Sie stand auf. Stellte ihren Rucksack auf den Sessel. Sie begann ihre Dinge zu ordnen. Sie fischte die Geldbörse wieder aus dem Rucksack. Sie holte Pfund-Münzen heraus. Steckte sie in die Jackentasche. Für das U-Bahnticket. Sie schaltete das handy ab. Richtig. Sie drückte den kleinen Riegel oben. Der Strom hatte lange gehalten. Das display leuchtete auf. Wurde dann ganz dunkel. Das handy verabschiedete sich mit einem Abschlusston. Sie sah auf. Dann kramte sie die Dinge in die Tasche. Rollte die Tasche oben ein. Verstaute sie im Rucksack. Nein, sagte sie. Sie schüttelte den Kopf. Sie dachte, sie müsste es nicht so hart ausdrücken. Nicht so endgültig. Aber der Kopf schüttelte

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