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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Brechreiz. Tief in der Kehle. Sitzen, sagte sie sich. Erhol dich einen Augenblick und dann weiter. Mit geschlossenen Augen war es viel deutlicher, dass es hier gefährlich war, allein zu sein.

29
    Sie saß in der Sonne. Das Licht durch die Wolken gedämpft. Zerstreut. Die Schatten aufgehoben und alles gleich hell. Die Sonne kam hinter der Wolke hervor. Die Schatten sofort scharf und tief. Sie sah dem Wechsel des Lichts zu. Sie hatte Durst. Der Hals. Die Kehle. Ihre Haut. Ihr ganzer Körper wollte Wasser. Im Magen dagegen. Das Wasser. Es schien zu schwanken. Zu schaukeln. Sie saß still. Hielt sich still um das Wasser in ihrer Mitte. Eine kippende Oberfläche mitten in ihr. Mit scharfen Rändern. Der Bogen der Straße vor ihr verlor sich nach rechts. Die Türen der Häuserreihe gegenüber. Die blauen Türen. Sie waren in allen Zuständen zurückgelassen worden. Frisch gestrichen und blau glänzend. Abgeschabt und nachgedunkelt. Der Lack abblätternd und mit langen Rissen. Fehlende Bretter mit hellen Spanplatten hinternagelt. Über aufgeraute zersplitterte Türen dunkle Bretter gehämmert. Pissgelbe Platten über die Türöffnung geschlagen. Es gab keine Ordnung. Neben einer blau glänzenden Tür mit goldpoliertem Messingtürklopfer und Türknauf schwarz versengte Bretter kreuz und quer in die nächste Türöffnung genagelt. Den Zugang zu verwehren. Dann wieder zwei farblos ausgebleichte Türen. In Wien gingen Zeugen mit. Bei Delogierungen. War das hier auch so. Die Zeugen wurden bezahlt. Vom Amt. Vom Amt bezahlte Zeugen des Elends. Zu sehen war, dass viele hier gewesen waren. Hier gelebt. Durch diese Türen ein- und ausgegangen waren. Dass niemand mehr da war und dass es noch nicht lange her war, dass Leute hier. Hier gelebt. Und jetzt nicht mehr. Das Verlangen, eine andere Person. Eine andere Person wenigstens zu sehen. Das Verlangen trieb sie auf. Sie musste sich am Gitter festhalten. Der Kopf. Im Magen kippte die Oberfläche des getrunkenen Wassers. Sie stand. Wartete auf das Gleichgewicht. Wartete bis die Wasserwaage in ihr zur Ruhe. Sie stieg die fünf Stufen zum Gehsteig hinunter. Das Licht wechselte. Die Strahlen der Sonne fingen sich in einer Wolke. Die Tiefe der Schatten löste sich auf. Alles rückte näher. Schob sich auf sie zu. Selma hielt sich am Geländer fest. »Ist da jemand.« sagte sie. Leise. Sie wusste nicht, ob sie sich gehört hatte oder ob sie nur wusste, dass sie gesprochen hatte. Dass sie sich innen gehört. Es war so still. War sie doch taub. Taub geworden. Taub geblieben. Ihr Leib schmerzte. Der Schmerz der Schürfung an der Ferse jetzt überall und innen. Der Schmerz wie das Hören. Es war ihr bekannt. Sie wusste es. Aber alles war sehr weit weg. In ihr. Innen. Die zerrende Sehnsucht nach einem anderen Menschen. Nach einer anderen Person. Und die scharf kippende Fläche des kalten Sees des getrunkenen Wassers. Sie stieg auf den Gehsteig. Stieß sich vom Geländer ab. Das Gehen jetzt eine Mühsal auch innen. Die Bewegungen erst innen ausgeführt werden mussten. Gegen einen Widerstand da. Und dann erst draußen. Und ein Schritt zu machen. Sie ging. Watete durch zähen dunklen Nebel in sich. Wanderte über die Risse und Aufwürfe des kaputten Gehsteigs der verlassenen Straße. Sie folgte der Biegung. Sie schaute nach vorne. Sie erwartete einen Ausgang in die belebte Straße zurück. Sie dachte, sie müsste von hier auf die belebte Straße zurückkommen und dann wieder unter Menschen gehen. Sie wäre gerne zu diesem »Sainsbury’s« zurückgegangen und hätte sich zu den Männern da gesetzt. Aber das war wohl nicht klug. Als Ladendiebin. Und es hatte alteingesessen ausgesehen. Wie die Männer da nebeneinander. Fest gefügt. Schwierig, da hinzugehen und zu fragen, ob man sich dazusetzen könne. Die Straße endete. Die Biegung führte an eine lang gezogene Reihe von Garagen. Garageneinfahrten. Nur das Betonskelett der Garagen übrig. Die Betonpfeiler vorne. Die Wände an der Seite. Die Decke. Die Garagentore herausgerissen und an der Wand links angelehnt. In einer Reihe hintereinander gestapelt. Stehend. Vor den Garagen ein kleiner Platz. Ein Kreis. Zum Umkehren. In der Mitte eine gusseiserne Säule mit dem Schild »Mockingbird Crescent«. Das Schild von einer korinthischen Säule hochgehalten. Blaue Schrift auf weißem Grund. Die Säule. Einmal blau gewesen. Selma blieb am Ende der Häuserzeile stehen. Sie war die roten Türen entlanggegangen. Sie sah zurück. Das Licht wechselte. Die

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