Entfernung.
Das kleine Vergnügen des feuchten vollen Munds in eine Last gekehrt. Die Zuschauer fügten Fettring um Fettring um sich. Nährten aus dem beobachteten Unglück ihren Schutzwall bis sie innen zerplatzten. Bis der Druck innen so groß und das Herz zerplatzen musste. Selma wurde gewahr, wie fest sie die Flasche und die Riemen des Rucksacks umklammert hielt. Wie sich die Anspannung der Hände bis in den Rücken zog. Widerlich, dachte sie. Widerlich. Die Gier dieses Mannes. Dieses gierige Vorbeugen. »Attack on London.« Sie ging. Sie wollte nicht sie sein. Sie selber. Sie wollte eine von den Personen auf dem Bahnsteig dann sein. Sie wollte die Polizistin mit dem ruhig prüfenden Blick sein. Sie wollte auch »that bad.« sagen. Mit dieser Betonung. So fragend bestätigend. Der Mann. Der Sanitäter. Der Arzt, der an ihr vorbeigesehen hatte. Sie schüttelte die Hände aus. Die Arme. Die Muskeln. »Sore muscles.« sagte sie sich. »My muscles are sore.« Sie formte den Satz. War zufrieden, ihre Muskeln auf Englisch schmerzen zu lassen. Sie war nun keine Heldin geworden. Sie hatte niemandem beigestanden. Sie hatte nicht einmal in das Flüstern neben ihr eingestimmt. Wie jemand »Jesus. Jesus.« geflüstert hatte. Da hatte sie sich nur überlegen können, dass sie nicht zu Kreuze kriechen könne und beten. »Attack on London.« Gegen sie war das gewesen. Und gegen den Mann auf dem Boden. Nicht gegen London. Wer war London. Mit einem Mal verstand sie den Ausdruck, die irdischen Fesseln abstreifen. Sie hätte ihren Körper los sein wollen. Dieses Ding, das niemanden interessierte. Sie auch nicht. Mit dem man ihr aber wehtat. Ihr Schmerzen zufügte. Dieses Ding, das ein einziges Gefängnis der Mühsal war. Geworden war. Aber wahrscheinlich war sie zu blöd gewesen, es zu begreifen. Sie war eine dumme Ziege. Ihre hochfahrenen Ideen. Alles hatte sie in diesen Niedergang geführt. Sie war ein Körper geworden. Nichts als ein alternder Körper. Sie war ein einziges Medium ihrer eigenen Verwundungen. Sie hasste sich. Hasste sich für ihr Versagen. Sie hatte alles falsch gemacht. Ihr ganzes Leben eine Enttäuschung. Nichts Reales. Nichts zu greifen. »Move on.« sagte sie vor sich hin. »Keep moving.« Eine junge Frau kam ihr entgegen. Selma schaute sie an. Böse. »Move on.« sagte sie. Die junge Frau. Enge Jeans. Hohe Absätze. Bauchfreies rosarotes Oberteil. Helle Haut. Die junge Frau wich Selma aus. Sie stieg vom Gehsteig auf die Straße. Die junge Frau strebte an ihr vorbei. Ging rasch. Sie hatte Autoschlüssel geschwenkt. Ging sie ihr Auto holen. Der Parkplatzwächter. Bei dem konnte man sich leicht einen Rabatt holen. Bei dem konnte man umsonst parken. Für ein kleines Entgegenkommen. Wie viel würde es kosten. Einmal Vögeln für eine Woche parken. Oder für einen Tag. London war die zweitteuerste Stadt der Welt. Für einen halben Tag durfte er sich an ihr schon reiben. Er konnte sich gegen ihr Hinterteil pressen und sich einen abreiben. Tabledancefashion. Wenn einen eine nicht unterbot. Wenn nicht eines Tages eine auftauchte und es schon für eine Stunde machte. Wenn das ganze System zusammenbrach. Die Vorstellung schüttelte sie. Alles ein widerliches Geschlecke und Gespritze. Alles ein einziges Hineingestecke. Wo ein bisschen Macht war, da wurde hineingesteckt. In die Ohnmächtigeren. Und sie steckten in alles hinein. In den Kopf. In den Leib. In die Seele. Augen. Ohren. Mund. Arsch und Scheide. Wo sich ein Loch fand. Und die Löcher eifrig. Die Löcher eifrig bemüht, sich entgegenzuhalten. Offen zu stehen. Bereit. Allzeit bereit. Eine große Konkurrenz der Löcher war das. Hinterwege und Löcher. Hinterwege und bereitwillig pulsierende Löcher. Das war London. Sie hasste diese Stadt. Sie ekelte sich vor dieser Welt. Kämpfte den Brechreiz nieder. Sie hätte sich über den Eingang zu diesem Parkplatz. In die Einfahrt. Sie hätte zurückgehen mögen und sich übergeben. Dem Mann da und der jungen Frau einen stinkigen See vor die Füße leeren. Sie wollte den Geschmack nicht im Mund haben. Sie hätte mit dem bitterscharfen Geschmack des Erbrochenen im Mund herumlaufen müssen. Selma überlegte. Das Studio von Sebastian war im Südwesten. Sie musste die Sonne zur linken Hand behalten. Halblinks. Jetzt ging sie direkt auf die Sonne zu. Sie ging in den Süden. Sie bog nach rechts. Die Straße belebter. Kleine Häuser. Geschäfte. Ein »Booth’s«. Eine Auslage mit Geschirr. Gläser. Becher. Alles übereinander in Glasregalen.
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