Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
Vom Netzwerk:
Vorstellung von London, dass man durchschlüpfen konnte. In Wien waren es die Durchhäuser. In London diese schmalen Durchgänge und mews. Hinterwege. Sie lief. Rechts. Das Grundstück eingeebnete Erde. Frisch. Ziegelstücke. Holzstücke. Metallreste. Ziegelstaub. Es war etwas abgerissen worden. Bei einer Tür in der Mauer nach links. In der Nische der Tür lagen die Kleider des Mannes. Sie waren ordentlich zusammengelegt. Ein Stapel. Ein Sakko lag obenauf. Zusammengelegt wie ein Pullover und ein Paar hellblaue Socken eingerollt in den Ausschnitt gelegt. Selma lief vorbei. Sie zwang sich weiterzueilen. Zwang den Impuls nieder, den Kleiderstoß zu nehmen und der Rettung nachzulaufen. Zu »Mockingbird Crescent« zurück und dem Krankenwagen nachlaufen. Der Anblick der Socken. Sie hätte wieder weinen können. Der ordentliche Stapel. Eine Militärerziehung. Ein Kinderheim. Ein strenger Vater. Eine unerbittliche Mutter. Sie hatte keine Luft zum Weinen. Sie hörte zu laufen auf. Ging. Sie fand sich die Flasche in ihrer Jackentasche festhalten. Sie hielt die Riemen des Rucksacks mit der rechten Hand vor der Brust zusammen. Damit der Rucksack beim Laufen nicht so gegen den Rücken schlug. Sie hatte das Wasser noch. Das war gut. Das Stehlen war einfach gewesen. Sie hatte nur die Vorurteile der Kassierin gegen heruntergekommene Weiße benützen müssen. Und wahrscheinlich war das gar nicht ihretwegen gewesen. Und der Mann am Boden hatte gar nichts mit security zu tun gehabt. Hatte nicht sie verfolgt. Wegen einem Fläschchen Wasser. Lief da jemand los und verfolgte den Entwender. Die Entwenderin. Sie hätte in ein Haus gehen müssen. Für ein neues Wasser. Sie hätte wieder irgendwo hineingehen müssen. Und in welche Richtung war Sebastian. Sie konnte sich Sebastians Weichheit. Die konnte sie sich rund um sich vorstellen. In die konnte sie sich wünschen. A meaningful relationship, dachte sie. Das war doch alles, was sie sich gewünscht hätte. A meaningful relationship. Hinuntergehen. Zu Sebastian hinuntergehen. Das würde sie nicht können. Sie musste von oben hinunterrufen. Ihn heraufholen. Es war heiß. Nach rechts mehrere Wege weg. Sie nahm den rechten. Ging den Bauzaun entlang weiter. Hinsetzen. Es gab keinen Schatten. Eine Baugrube. Die Fundamente betoniert. Rostbraune Stahlstangen in die Höhe. Bündelweise. Ein Parkplatz. Der Maschendrahtzaun rostig und eingerissen. Eine weiß gestrichene Hütte für den Aufseher neben der Einfahrt. Der Parkplatz voll gestellt. Die Autos. Grau glänzend. Eisblau glänzend. Dunkel. Der Aufseher saß auf einem orangen Klappsessel vor dem Häuschen. Der Fernsehapparat stand im Fenster. Der Mann starrte auf das Bild. Er rauchte. Schnippte die Zigarette achtlos weg. Suchte nach der nächsten in der Brusttasche. Selma ging den Zaun entlang auf die Einfahrt zu. Der Mann schüttelte den Kopf über das, was er im Fernsehen sah. Er rauchte. Auf dem Bildschirm eine Polizeiaktion. Ein Polizist stand vor dem gelben Absperrband und sagte zu einer afrikanischen Frau, sie solle weitergehen. Hier wäre gesperrt. »Move on. Keep moving.« Selma schaute dem Mann über die Schultern. Durch den Zaun. Sie blieb stehen. Unten. Am unteren Bildrand stand »Attack on London.« Dann kam ein anderer Mann in Polizeiuniform ins Bild. Im Abstand von wenigen Minuten wären in der Londoner underground mehrere Explosionen ausgelöst worden, sagte er. Ein Bus wäre von einer solchen Explosion ebenfalls betroffen. Selma schaute das Fernsehbild an. Der Mann vor ihr drehte sich um. Er war dunkel. Ein Inder. Pakistani. Tamile. Sie konnte das nicht erkennen. Der Mann stand auf und kam an den Zaun. Was sie wolle. Er fragte sie lispelnd. Mit starkem Akzent. Sie verstand ihn nicht gleich. Der Mann machte scheuchende Handbewegungen. »Move on.« zischte er durch den Zaun. »Move on.« Selma fand das komisch. Sie ging weiter. Da hast du jetzt eine Geschichte versäumt. Sie dachte, dieser Mann hörte gerne Geschichten. Dramatische Geschichten. Er hatte sich so vorgebeugt. Die Arme auf die Knie aufgestützt. Den Kopf dem Bild zugereckt. Eager. Das war das Wort dafür. Gierig. Jedes Unglück einer anderen Person löste Speichelfluss aus. Deshalb mussten die alten Damen beim »Sluka« dann ja so viele Torten essen. Um den reichlich fließenden Speichel zu beschäftigen. Die Reaktion auf das Unglück anderer wurde so zum Speck der Zuseher. Speichel und Torten wurden zu Speck und waren dann eine Fortsetzung des Unglücks. Eine Last.

Weitere Kostenlose Bücher