Entfernung.
lachten. Der fotografierende Mann. Er bog sich vor unterdrücktem Lachen. Er konnte das handy gar nicht immer auf sie und den anderen Mann richten. Selma. Einen Augenblick. Nur Traurigkeit. Eine unendliche Traurigkeit und Niedergeschlagenheit erfüllte sie. Der Wunsch zu vergehen. Dieser Situation durch Verschwinden zu entgehen. Sich aufzulösen. Sich nur wünschen müssen, woanders zu sein. Sich woandershin wünschen zu können und diesen Menschen zu entgehen. Zu entkommen. Dann die Scham. Sie war der Grund für diese Verachtung. Sie hatte diesen Jugendlichen den Anlass geboten. Sie stand. Starrte auf den fotografierenden Mann. Der krümmte sich vor Lachen. Sein Kopf gebeugt. Selma konnte jede gegelte Locke auf seinem Kopf einzeln sehen. Sie schaute zu dem Paar zwischen den Gemüsekisten hin. Die lachten. Fanden das komisch. Selma ging auf den Mann zu. Der neben ihr folgte. Er musste auch lachen. Beide Männer waren vom Lachen geschüttelt. Krümmten sich. Der Fotografierer hielt das handy hoch. Selma nahm ihm das handy aus der Hand und lief davon. Sie klappte es zusammen und hielt es hoch. Die Frau schrie auf. Die beiden jungen Männer konnten vor Lachen nicht gleich reagieren. Sie lachten weiter. Selma lief davon. Sie lief um die Ecke. Der eine junge Mann kam ihr nachgelaufen. Er war wütend. Aber er hatte das hysterische Lachen noch nicht ganz abschütteln können. Selma stand neben einer Hecke. Der Mann kam auf sie zu. Selma schrie. »Ich verachte euch.« Sie schrie um Hilfe. Sie schrie, dass das alles nicht auszuhalten sei. Dass der Teufel diese Stadt holen solle, in der einem so schreckliche Sachen passierten und in der man dann Gegenstand der Belustigung würde. »Ich verachte euch. Ich hasse euch. Ihr seid das Letzte. Was glaubt ihr eigentlich.« Selma schrie. Der Mann war stehen geblieben. Er schaute sich um. Der andere kam um die Ecke. Grinsend. Selma schrie ihn mit an. Dass sie nur treten könnten. In dieser Stadt. Eintreten aufeinander. Die Männer kamen nahe. Selma schrie wieder um Hilfe. »Help. Help. I’m being robbed.« Hinter einem Fenster rechts bewegte sich etwas. Ein Vorhang wurde zur Seite geschoben. Die Männer rückten näher. Sie beobachteten sie. Ihr Geschreie machte sie vorsichtig. Selma hielt das handy hoch. »Ich verfluche euch.« Sie sagte es mit Inbrunst. Warf diesen Satz diesen Jugendlichen vor die Füße. Die Verachtung in diesem Satz. Dann schrie sie »Arschlöcher. Arschlöcher. Arschlöcher.« Die Jugendlichen kamen näher. Vorsichtig. Nicht mehr ganz sicher. Selma schleuderte das handy über die Hecke. Dass das das erste Grün seit langem wäre, schoss es ihr durch den Kopf. Die beiden Jugendlichen. Sie lief um die Ecke zurück. Sie schrie um Hilfe. Und »Arschlöcher.« Immer wieder »Arschlöcher.« Sie lief. An der Ecke sah sie kurz zurück. Einer der Jugendlichen hatte versucht, über die Hecke zu klettern. Der Schwarzgekleidete steckte in den Zweigen fest. Er steckte in den Zweigen und fuchtelte. Schrie wütend. Der andere lachte wieder. Der Weißgekleidete krümmte sich schon wieder vor Lachen. Jemand sah aus dem Fenster. Selma hörte zu laufen auf. Sie bog in die Parallelstraße ab. Sie ging schnell. Sehr aufrecht. Bewegte sie sich so, wie dieser Bursche sie nachgemacht hatte. Ließ sie die Schultern so hängen. Schlich sie so dahin. Zog die Füße nach. Stolperte sie so vor sich hin. Und hielt sie den Mund so offen. Hatte sie den Mund so offen gehalten, wie der Mann sie nachgeäfft. Aber es hatte sehr komisch ausgesehen, wie die beiden Jugendlichen sich nicht getraut hatten, ihr nahe zu kommen. Und es war zu komisch gewesen, wie der Schwarzgekleidete in der Hecke herumgerudert hatte. Mit seinen Armen. Und feststeckte. Sie ging weiter. Lachend.
30
Es war heiß geworden. Die Sonne. Der Asphalt. Die Gehsteige aufgeheizt. Selma ging. Die Schuhe eng und rau. Die Schuhe rieben. Zu warm. Sie hatte gedacht. Sie hatte gelesen. Irgendwo. Im »Spiegel«. Das war lange her. Sehr lange. Als es begann. Als sie begonnen hatten mit dem Schockieren. In den Medien. Verkehrsunfälle. »Krieg auf den Straßen« hatte »Der Spiegel« getitelt. Und Unfallfotos. Abgeschnittene Arme. Abgetrennte Beine. Zermalmte Torsi. Sie hatte sich zwingen müssen, die Bilder anzusehen. Sie hatte die Bilder nur einzeln ansehen können. Der Brechreiz noch bei der Erinnerung. Die Weite im Kopf. Ihre Empfindungen in den entferntesten Winkel ihrer Vorstellung verkrochen. Sie hatte sich gehasst dafür, diese
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