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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Klageton. Der Klageton. Das An- und Abschwellen. Der Ton lang gezogen hinauf und dann ein Tremolo tief aus der Kehle in die Kopfstimme umschlagend. Es klang orientalisch. Die Stimme klang wie eine der Sängerinnen auf einer der arabischen Fernsehstationen. Einer, bei der Frauen auftreten durften. Es war aber nur klagend. Anklagend. Kein Rhythmus die Stimme in eine Melodie zu treiben. Der Klageton aus dem Geschäft. Die Stimme brach ab. Begann wieder neu. Die Tür wurde geschlossen. Der Ton abgeschnitten. Seit sie auf diese Straße gekommen war. Seit sie das Telefon in der leeren Wohnung so endlos läuten gehört hatte und dann auf diese Straße gekommen war. Seit sie diese alten Frauen aus ihrem Altersheim weglaufen gesehen hatte. Sich absetzen. Sich mit grimmiger Entschlossenheit davonmachen. Seit diese verkommenen Jugendlichen sie fotografiert hatten. Seit sie in dieses Zimmer mit den Ostmafiosi geschaut hatte. Im Keller von dem Restaurant. Es waren diese Blicke. Selbst diese alten Frauen. Sie hatten sie so betont nicht angesehen, dass man gleich wusste, dass sie einen beobachteten. Sie wurde beobachtet. Sie wurde verdächtigt. Von denen. Von denen allen. Der Inder. Wie er auf das Holz eingeschlagen hatte. An seiner Tür. Wie er mit der flachen Hand auf das Holz eingeklatscht hatte. Seine Wut und seine Enttäuschung in das Holz geschlagen. Er hatte sie angesehen dabei. Sein Blick hatte sie aufgefangen und war ihr nachgegangen. Diese Blicke wurden ihr nachgeschickt. Aufgeladen wurden die ihr. Jeder hatte aufgesehen und ihr so einen Blick hingeworfen. Als trüge sie einen großen Korb am Rücken und jeder konnte seine Verdächtigungen hineinwerfen. Jeder. Jede. Und sie musste das dann wegtragen. Es war gut, dass der Rucksack zugeschnürt war. Selma ging. Sie ließ den Rucksack über die linke Seite heruntergleiten und nahm ihn nach vorne. Sie schob den Rucksack über die Seite nach vorne. So konnte nichts geschehen. Hinter ihrem Rücken. Der Klageton hing um ihren Kopf. Innen und außen. So sind Dornenkronen, dachte sie. Der Ton schmerzend knapp über den Augen. Der Jammer im Ton ließ die Augen brennen. Die Augen trocken und kratzig. Zu trocken für Tränen. Sie hatte nichts gemacht. Sie hatte überhaupt nichts gemacht. Aber sie fühlte sich nicht unschuldig. Etwas antwortete auf diese Blicke. Etwas in ihr wusste etwas darüber. Sie hätte sich krümmen mögen. Niederhocken über diesem singenden Schneiden der Scham hinter dem Nabel. Sie hatte nicht. Irgendetwas hatte sie nicht getan. Nicht rechtzeitig. Ein Versäumnis. Und alle wussten es und schickten sie weg. Sie wurde weggeschickt, es wegzutragen. Für alle. Sie hätte auf eine der roten Bänke vor dem indischen Restaurant steigen wollen. Auf einen Tisch. Und es allen sagen. Dass sie es nicht gewesen war. Aber dass es trotzdem richtig war. Dass alle Recht hatten. Sie war nichts wert. Sie hätte das zugeben müssen. Und dann hätten alle geweint. Dann hätten sie alle in diesen Klageton ausbrechen können. Einstimmen. Gemeinsam schreien. Alle schreien. Und vor schreien es nicht mehr hören müssen. Sie ging. Sie musste schneller gehen. Der Ton hing im Ohr. Kam mit. Links geschlossene Geschäfte. Ein Croissantimbiss. Leer. Niemand da. Ein Schuhgeschäft. Tanzschuhe. Theaterschuhe. Ballettschuhe. Stepptanzschuhe für Männer und Frauen. Die Schuhe aufgestellt. Die Metallplättchen auf den Sohlen matt glänzend hinter einer orangefarbenen Sonnenblende. Der Ton. So sind Dornenkronen. Sie musste den Kopf senken. Der Ton schwer. Alles schwer. Hier alle Geschäfte verschlossen. Verlassen. Die Auslagen mit Ankündigungen verklebt. Plakate. Ein gehängter Mann. Vom breiten Ast eines Baums hängend. Die neue CD der »Bad Boys Crazy« wurde angekündigt. Ein Durchlass nach links. Selma schwenkte ab. Der Gang führte zwischen Hausmauern durch. Der Gang sehr schmal. Eine Abflussrinne für Regenwasser in der Mitte und rechts und links nur fußbreit betoniert. Selma musste breitbeinig gehen. In der Rinne feuchter Abfall. Es roch. Modrig. Nach Essensresten stinkend. Scheiße. Der süße Geruch von Totem. Geranien fielen ihr ein. Der Geruch der Geranien von der Mutter. An Hinterhöfen vorbei. Dann wieder Hausmauern. Dann die nächste Straße. Nach rechts. Über die Straße. Sie bog wieder ab. Kleine Reihenhäuser. Winzige Gärten. Vor einem Haus. Vor dem großen Wohnzimmerfenster des Hauses ein Strauch. Hoch. Gelbe Blüten. Selma setzte sich auf das Vorgartenmäuerchen. Der Duft.

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