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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Das Kind war sehr klein. Die Frau musste sich tief hinunterbeugen, das Kind an der Hand zu halten. Das Kind langsam. Es zögerte vor jedem Schritt. Dann hob es das Beinchen. Setzte es nach vorne und verlagerte sein Gewicht auf das Bein vorne. Es hielt wieder einen Augenblick schwankend inne und machte dann den nächsten Schritt. Selma ging hinter den beiden. Sie sah dem Kind zu. Das Kind lernte das Gehen erst. Warum bestand sie auf ihren Gefühlen. Warum musste sie auf ihren Gefühlen bestehen. Bestand sie nur daraus. Ihre Gefühle. Die waren auch immer schon falsch gewesen und sie waren immer schon schrecklich. Worauf sie bestehen musste. Das war. Das war Untröstlichkeit. Schiere Trostlosigkeit. Der Mann in Mailand. In Santa Maria delle grazie. Während die Touristen in die Lanterna von Bramante hinaufstarrten und zustimmend nickten. Weil sie das vorfanden, was sie erwartet hatten. Und während alle draußen standen und auf die Mauern schauten. Weil da Vincis Abendmahl in restaura war und man nicht hineinkonnte. Wie immer. Damals. Der Mann war an der Seite gestanden. Für ihn war dieser Raum seine Kirche gewesen. Die Tränen waren ihm über die Wangen geronnen. Einfach geronnen. Die ganze Person war in einer Weise angespannt gewesen. Vollkommen unbeweglich in Trauer gesperrt. In Verzweiflung. Und nur die Tränen geronnen. Sie hatte den Mann noch einmal beim Heraustreten aus der Kirche gesehen. Beim Verlassen seines Gotteshauses. Sein Gesicht. Schräg. Aller Jammer und ohne Gegenwehr. Eine Ausgeliefertheit. Verloren an allen Jammer. Und weil er ein Mann war. Nicht alt. Die schwere Verwundung so offen noch erschreckender. Sie hatte sich Geschichten ausgedacht. Zu ihm. Natürlich waren das romantische Geschichten gewesen. Und natürlich der Impuls, ihm zu helfen. Wie jeden Versehrten Mann gleich an Sohnes statt. Aber es war ganz klar gewesen. Dieser Mann war untröstlich und sie hatte ihn um das Ausmaß seiner Gefühle beneidet. Sie ging auf die andere Straßenseite. Das langsame Tappen der Frau mit diesem Kind. Es kam ihr plötzlich falsch vor, die Bemühungen dieses Kinds zu beobachten. Dieser Unbeirrtheit zuzusehen. Es ausgestellt zu finden, wie hilflos dieses Kind da. Und wie die Frau rauchte, telefonierte, den Kinderwagen schob und das Kind führte. Das Kind von Zeit zu Zeit losgelassen, sackte in sich zusammen und wurde dann am Arm wieder hochgezogen. Wie das Kind in die Höhe gezogen kurz in der Luft hing. Am Ärmchen gehalten baumelte. Und dann hingestellt wieder seine Gehversuche begann. Unverdrossen setzte es die winzigen Niketrainer einen vor den anderen. Selma ging im Schatten. Sie hätte gerne die Jacke ausgezogen. Aber dann waren die abgeschürften Hände zu sehen. Wahrscheinlich war sie schwarz. Am ganzen Körper schwarz. Schwarzgrau. Eine Häuserzeile. Dunkelbraune Häuser. Die Einfassungen der Fenster und Türen weiß. Rechtsanwälte. Firmen. In einem Haus Ärzte. Ein Dr. Hagger. Sie setzte sich auf die Stufen zu seinem Eingang. Sie hatte Zeit. Sebastian kam sicher erst am Nachmittag dorthin. Am Vormittag. Da waren alle in der Schule. Arbeiten. Schliefen noch. Oder rauchten sich gerade gemütlich ein. In den Häusern auf der anderen Straßenseite. Ein neuerer Wohnblock. Fünfstöckig. Lange Balkone. Die Türen zu den Wohnungen hinter den ausgebleichten blauen Balkonblenden. Bullaugen neben den Türen. Ein Bullauge. Eine Tür. Die Bullaugen wahrscheinlich die Clofenster. Ein winziges Badezimmer. Eine Küchenzeile rechts und dann ein Wohnschlafzimmerschlauch. Aus einem Bullauge hing ein oranges Tuch. Neben den Türen große Eiskästen. Möbel. Von so einem Ort. Da musste man weg oder sich einrauchen. Oder sich von Dr. Hagger einen Aufheller besorgen und damit das Blau der Balkonblenden vertiefen. Das Blau im Auge des prozacgestärkten Betrachters blauer. Selma stand auf. Die Frau mit dem kleinen Kind tauchte von oben auf. Selma wollte nicht noch einmal das kleine Körperchen am Arm hochgezogen in der Luft hängen sehen. Konnte denn niemand dieser Frau sagen, dass die Schultern eines Kindes das nicht aushielten. Dass man mit einem so kleinen Kind. Vorsichtig. Vorsichtiger umgehen musste. Dass man es nicht so herumreißen. Selma ging. Sie trug den Rucksack vorne. Sie hatte die Träger über beide Schultern und den Rucksack vor dem Bauch. Das war gut gegen das Jagen im Bauch. Wenn das Jagen zu stark wurde, dann konnte sie den Rucksack dagegen drücken. Das fibbernde Jagen wegdrücken. Die Straße

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