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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Porzellanvasenlampen rechts und links. Selma schüttelte den Kopf. Sie ging immer noch an Häusern vorbei und überlegte, ob sie da wohnen wollte. Wie das Leben in diesem oder jenem Haus sein könnte. Wie ein kleines Mädchen war sie. Träume. Träume vom Leben. Was einmal sein würde. Sie ging immer noch Straßen entlang und wünschte sich in fremde Häuser. Wie mit den Freundinnen. Am Sonntagnachmittag. Mit der Tilly in Döbling. Oder der Marianne. Das war ja als einer der Vorteile der Klosterschule gesehen worden. Nur aus besseren Familien. Die kleine Katholikin in ihr. Sie träumte immer noch vom Paradies in einem Häuschen begrenzt. Ein Paradies aus Versorgung und Sicherheit und einem glücklichen Tod. Das hätte ihr der Freigeist des Vaters ersparen sollen. Aber der hatte sie zähmen lassen. Dort. Der hatte gedacht, sie würde da gezähmt werden. Dort würde die Mutter in ihr gezähmt. Und sie war ja frigide geworden. Aber nur fast und sie konnte nicht an solche Dinge denken. Wenn sie an Wien dachte. Wenn der Gedanke an die Welt da. Der Gedanke war schon hinter ihr. Sie dachte den Gedanken schon hinter ihr liegend. Der Gedanke dachte sich weit hinten. Eine geschlossene Tür und keine Vorstellung. Nur Erinnerungen. Eine braun glänzende Tür war das. In Augenhöhe aber hinter dem Kopf. Und das Denken daran ein schlimmes Gefühl in der Kehle. Verschlossen. Auch da. Die nächste Straße wieder weniger gepflegt. Auf der anderen Seite Backsteinbauten. Wohnungen. Projects. Public housing. An der Bushaltestelle saßen drei Frauen. Alle drei waren dick. Sie trugen afrikanische Trachten. Bunt bedruckte Kleider. Hoch aufgetürmte gemusterte Tücher auf dem Kopf. Selma bog nach links. Eine Pensionistentagesstätte. Daycenter for the elderly. Ein alter Mann am Fenster. Hinter ihm ein Saal. Orange Plastiksessel. Grüne Plastiktische. Erbsengrüne Plastiktische. Alles leer. Der alte Mann rauchte. Er saß am Fenster. Sah vor sich hin. Er hielt die Zigarette steil in der Hand. Den Arm auf dem Tisch aufgestützt. Die Zigarette nur Zentimeter von seinem Mund entfernt. Selma hätte ihm die Zigarette aus der Hand reißen können. Einen Augenblick lang. Sie ging weiter. Schnell. Das war alles hinten. Das war hinter ihr. Rauchen. Da war sie 14. Und in Wien. Eine trockene Leere, wenn sie daran dachte. Trocken. Hell. Die Möglichkeiten von damals mittlerweile vertan. Schal geworden. Sie wollte nicht als Hoffnungslose an die Hoffnungsvolle erinnert werden. Sie endete mit Blumenduft. Das war ziemlich wenig. Aber versöhnlicher. Wenn sie sich vorstellte, was sie ausfüllte. So waren es dann doch Mädchenträume, die erfüllt werden mussten. Aber sie würde nie mehr rauchen.

31
    Die Straße führte leicht bergab. Selma schaute sich um. Hinter ihr. Die 3 Frauen auf der Bank. Sie saßen unbeweglich. Warteten. Es war kein Bus zu sehen. Kaum Autos. Vormittagsruhe. Selma hatte gedacht, so etwas gäbe es nicht mehr. Der Strom des Verkehrs nicht enden wollend den ganzen Tag. Die vielen Autos sich einen Platz suchen mussten und eines nach dem anderen durch jede Straße fuhr. Weil Autos sich mit Pferden verwechselten und ausgeritten werden mussten. Und weil jedes home ein castle war, musste jedes Auto als Pferd angesehen werden. Aus England nach Amerika mitgenommene feudale Ideale des Privaten über die Autoindustrie fragmentiert, dann globalisiert und von den Erdölmultis zur Erpressung benutzt und selbst erpresst. Und alle dazwischen. Es war zum Kotzen. Jeder erpressbar. Jede. Sie hätte das Angebot der Neurologin annehmen sollen. Es war als Hilfe gedacht gewesen. Hilfe als Ausweg. Öffentliche Fluchtwege. Der Orthopäde hatte ihr helfen wollen. Hatte ihr Hilfe angedeihen lassen wollen. Mit der Überweisung zur Neurologin. Sie hätte es ernst nehmen sollen und nicht so empört abwehren. Die Frage der Ärztin. »Was kann ich Gutes für Sie tun.« Die war wörtlich zu nehmen gewesen. Die war ernst gemeint. Ein Aufheller. Etwas zum Aufhellen. Das war ein Angebot. Die Ärzte als Engel. Fluchthelfer. Sie hätte sich das Prozac verschreiben lassen sollen. Dann wäre das alles nicht passiert. Dann hätte sie mit dem Gilchrist zivilisiert zu Abend gegessen und wäre ins Hotel und säße mit dem Tommi noch beim Frühstück, und sie würden über die Vergangenheit lachen. Über die rührenden Dummheiten der Eltern lächeln. Eine Frau mit einem kleinen Kind ging vor ihr. Die Frau schob einen Kinderwagen. Das Kind ging aber. Wackelte an der Hand der Frau.

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