Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
Vom Netzwerk:
und der Mann standen auf. Selma wollte nicht auf den Fensterplatz. Sie musste auf die Toilette. Sie wollte sich nicht an diesen beiden Menschen vorbeidrängen. Die Stewardess stand da. Das Lächeln wurde dünner. Selma konnte sehen, wie die Frau die Situation abzuschätzen begann. Sie zwängte sich zum Fensterplatz durch. Es wäre schön gewesen, auf ihrem Platz am Gang zu bestehen. Es hätte ihr gut getan. Und es wäre richtig gewesen. Aber sie war nicht sicher, ruhig und bestimmt bleiben zu können. Sie war sicher, unangemessen zu reagieren. Und dass sie hier ihren Platz nicht bekam. Das war eine Fortsetzung. Das war in der Kette der Verweisungen zu sehen. Das war in der Kette ihrer Verweisungen ein neues Glied. Sie schob den Rucksack unter den Vordersitz. Stellte die Tasche zwischen der Wand und ihrem linken Bein ab. Sie suchte nach den richtigen Gurtenden. Schnallte sich an. Der Mann neben ihr hatte seinen Arm auf der Armlehne liegen. Sie legte ihren Arm neben seinen. Sie fühlte seine Muskeln durch ihren Jackenstoff. Hart. Sie drängte ihren Arm gegen seinen. Stieß ihn an. Eine Welle Wut. Warum breiteten diese Kerle sich so selbstverständlich aus. Der Mann rückte zur Seite. Ließ ihrem Arm die Kante der Armstütze. Sie lehnte sich zurück. Dann ließ sie ihre Arme auf die Oberschenkel gleiten. Sie hätte den ganzen Flug hindurch diese Armstütze verteidigen müssen. Hätte Arm an Arm mit diesem wildfremden Mann nach London fliegen müssen. Um ihr Recht auf die Hälfte der Armstütze zu verteidigen. Da war es ihr wichtiger, ihn nicht zu berühren. In dieser Enge. Da war ihr der Abstand wichtiger. Da war es ihr wichtiger, keine Berührung. Und den Tommi. Dem musste sie entkommen. Dem wollte sie nicht mehr unter die Augen. Sie drehte die Luftdüse weiter auf. Ließ den Luftstrahl über ihr Gesicht. Machte die Augen zu. Sie saß hinter dem Flügel. Sie konnte auf die Turbinen schauen. Sie konnte sehen, ob es einen Maschinenschaden gab. Oder ob eine Stichflamme aus dem Triebwerk schoss. Und bei einem Absturz würde sie mit dem Heckteil abbrechen. Ihre Überlebenschance war um einiges geringer als die von den Tommis. Da vorne. Sie faltete die Hände im Schoß. Machte sich in den Schultern schmal. Sie schloss die Augen. Das Dröhnen der Triebwerke. Die Ansagen. Der Pilot sagte etwas von Aufholen der Verspätung. Sie ließ die Augen geschlossen. Das Flugzeug schaukelte nach hinten. Bewegte sich. Ein Baby begann zu weinen. Vorne. Das Greinen dünn. An- und abschwellend. Sie saß da. Weinerlich und schwach. Alles war anstrengend. Vor lauter Erschöpfung hatte sie vergessen, sich auf ihre Flugangst zu konzentrieren. Aber sie hatte keine Kraft dafür. Sie atmete tief. Sog die Luft aus dem kalten, trockenen Luftstrom aus der Düse. Fühlte das Gesicht trocknen. Austrocknen. Sie machte die Augen auf. Sie fuhren vorwärts. Sie hatte nicht bemerkt, wann das Flugzeug die Richtung gewechselt hatte. Sie schloss die Augen. Ließ sich schaukeln. Rütteln. Ließ sich einhüllen. Ließ sich vom Dröhnen umgeben. Sie fühlte sich fester werden. Innen. Diese Weichheit. Dieses Davonfließen. Alles ruhiger um die Mitte. Innen. Wieder kompakter und nicht sofort in Tränen auflösbar. Und wenn sie jetzt. Wenn das Flugzeug nicht hinauf. Wenn es abschmierte. Beim Aufsteigen. Wenn es von einer Windböe verdreht. In den Boden. Die Hitze von der Angst. Nur ein kurzes Zusammenballen. Tief innen. Dann gleich wieder aufgelöst. Eine Gleichgültigkeit. Dann stürzte sie eben ab. Dann war alles zu Ende. Dann musste sie sich nichts überlegen. Dann war ihr alles abgenommen. Dann musste sie nichts mehr entscheiden. Und dann musste sie nie wieder aufstehen. Dann musste sie sich nie mehr aus dem Bett. Arbeiten. Sich keine Aufträge mehr erteilen. Sich durchquälen. Dann war alles geregelt. Sie ließ sich in den Sitz pressen. Der Druck und der Lärm ansteigend. Und dann aufgestiegen. Die Ruhe des Gleitens. Es war nichts passiert. Hinter den geschlossenen Lidern. Im schwebenden Sitzen. Einen Augenblick tat es ihr Leid. Ein Ende. Es wäre einfach gewesen.

6
    Sie wachte auf. Erschrocken. Sie hatte ein Geräusch von sich gegeben. Einen Jammerlaut. Ein Stöhnen. Sie sah sich um. Das Paar neben ihr. Sie hatten die Köpfe einander zugedreht. Besprachen etwas. Vorne. Alle Leute sahen vor sich hin. Lasen. Niemand hatte sich ihr zugewandt. Schaute sie an. Wollte herausfinden, warum sie stöhnte. Oder sah sie böse an. Vorwurfsvoll. Weil sie so. Privat. Es war

Weitere Kostenlose Bücher