Entfernung.
der Cousin. Als Cousin hätte sie ihn mögen müssen. Das Wort Cousin war für sie mit Nähe verbunden. Mit gemeinsam erlebten Kindheitsabenteuern. Vetter Tommi. Und sein Vater Gustl. Das waren. Die Stimmung überschwemmte sie. Die Art, wie man bei denen zu Hause sitzen hatte müssen. Im Speiszimmer. Und der Onkel Gustl. Sie hatte den Tommi beneidet. Ein bisschen. Es hatte immer gekaufte Kuchen gegeben. Zur Sonntagsjause. Das hatte es bei ihnen zu Hause nicht gegeben. Und sie waren immer alle. Der Vater die Mutter nie allein zum Onkel Gustl gelassen. Und es hatte keine Tante gegeben. Sie hatte diese Leute vollkommen vergessen. Und dass es einmal interessant gewesen war, wo die Mutter vom Tommi hingeraten war. Es war nicht geredet worden. Über diese Frau. Und sie hatte nicht gefragt. Die Hammerlings. Die gehörten zur Familie von der Mutter. Und es war immer. Eine Spannung. Wenn von denen die Rede war, dann hatte sich der Vater sofort aufrechter. Die Schultern zurück. Den Kopf gesenkt. Und die Mutter war eingesunken. Ein bisschen nach vorne zusammen und sie hatte den Kopf hängen lassen. Sie waren dann verschwunden. Der Onkel Gustl und der Vetter Tommi. Und keine Sonntagnachmittagbesuche. Und die langen Pausen. Über den gekauften Kuchen. Der Tommi. Der war um mindestens 5 Jahre jünger gewesen. Ein Baby. Damals. Der Mann hatte sie erreicht. Er stellte sich neben sie. Das wäre aber doch einmal eine Überraschung. Selma hier zu treffen. Und wie ihn das freue. Er hätte sich schon lange einmal gewünscht, sie zu sehen. Und ihren Vater. Und wie es ihr ginge. Was sie mache. Was sie plane. Nächstes Jahr. Denn er wäre ihr treuester Fan. Er ginge in jede Veranstaltung der Wiener Festspiele und erzähle allen, dass das seine Cousine sei, die das alles veranstalte. Der Mann war groß. Schlank. Hellbraune Haare. Eher lang. Das Gesicht schmal. Blaue Augen. Er sah gut aus. Er sah konventionell gut aus. Er trug einen grauen Leinenanzug mit einem gelb und weiß gemusterten Hemd. Die Jacke über dem Arm. Er war modisch elegant verknittert. Er sprach auf sie ein. Er sprach schnarrend nasal. Ein übertriebenes Schönbrunner Wienerisch. Ein Bobby, dachte Selma. Der Tommi ist ein Bobby geworden. Der Tommi könnte sofort in der Josefstadt auftreten. Als eine dieser Witzfiguren aus der Monarchie, die da für Oberschicht gehalten wurden. Von den gierigen alten Frauen, die in der Josefstadt das Abonnement beherrschten. Ihr ginge es gut, sagte sie. Und was er mache. Was er in London machen wolle. Ob er beruflich nach London reise. Oder zu seinem Vergnügen. »Beides.« sagte der Mann. »Natürlich beides.« Hauptsächlich habe er geschäftlich da zu tun. Aber. Er beugte sich zu Selma. Verschwörerisch raunte er ihr zu, dass seine Uniform im Koffer sei. Ihm wäre es einfach zu heiß, im dunklen Anzug zu reisen. Er verkleide sich lieber nur für seine Termine. Im Bankgeschäft. Da wäre das ja gnadenlos. Da habe sie es sicher leichter. Sie habe es mit Künstlern zu tun. Da wäre das mit der Kleidung doch sicher lockerer. Er sah sie an. Selma grinste ihn an. Das wäre dann ja eine schöne Verkehrung der Dinge. Sie stünde im schwarzen Hosenanzug da. Und er. Der Banker. Er mache es sich wieder leicht. »Ja. Wir Kapitalisten.« lachte er. Aber er müsse auch eine Woche da bleiben. Mindestens. Und am Abend wolle er dann doch wie ein Mensch aussehen. Und nicht wie ein Banker. Sie wurden weitergeschoben. Selma geriet hinter Tommi. Der Mann vor ihr bei der Sperre. Die Frau von der AUA nahm seine Boardkarte. Sah sie an. Lächelte ihn an. Sie wünschte ihm einen guten Flug. Er bedankte sich. Nahm seinen Boardkartenabschnitt. Ging in den Gang hinein. Selma hatte die Boardkarte nicht bereit. Sie hatte vergessen, die Boardkarte bereitzuhalten. Sie musste auf die Seite treten. Wurde zur Seite geschoben. Von den Passagieren hinter ihr. Sie suchte in der Tasche nach der Boardkarte. Ihr war heiß. Sie wusste, ihr Kopf war so rot wie die Uniform der AUA. Sie hatte diesen Menschen immer verachtet. Sie hatte seinen Vater und ihn immer. Das war sogar schlimm gewesen. Diese erzwungenen Besuche. Sie war vorgeführt worden. Sie war der Star gewesen. Sie hatte funktioniert. Vorzugsschülerin und Klavier und Skifahren und Tennis und Sprachkurse. Und der Tommi. Immer Probleme. Schlechte Noten und keine Disziplin. Und jetzt stand sie da. Wühlte in der Tasche. Musste die boarding card suchen. Als flöge sie das erste Mal. Als hätte sie keine Routine. Eine
Weitere Kostenlose Bücher