Entfernung.
zum Helden werden ließ. Das mochten die Leute. Wenn man im Heldentum der Ironie die Heldin verbarg. Wenn man es ihnen ersparte, sie bewundern zu müssen. Dass sie ihr Frauenschicksal mit dieser heldischen Ironie zu tragen wusste. Aber das wusste sie alles erst jetzt. Zu spät. Sie hatte schon alle verschreckt. Mit der Rohheit ihres Schmerzes. Sie hatte selbst den Schmerz als etwas Glühendes in Erinnerung. Als etwas rund um sie Glühendes. Das sich auf die anderen warf. Das die anderen bedrohte. Mit Verbrennungen. Das die anderen in den Tumult eines solchen Feuers hineinzog. Das die Ruhe kostete. Und von dem alle sagten, sie solle sich einmal beruhigen. Zur Ruhe kommen. Sich über sich selbst klar werden. Klarheit finden. Und sie war allen auf die Nerven gegangen. Ging den anderen auf die Nerven. Ganz wörtlich. Die anderen gingen weg, damit sie nicht auf deren Schmerznerven spazieren ging. Damit sie nicht in ein Nachempfinden ihres Schmerzes gezogen wurde. Damit sie ihren Schmerz nicht vergesellschaftete. In der relativen Sicherheit Unsicherheit unerträglich. Sie ertrug ihre Unsicherheit ja auch nur, weil sie alles erfasst hatte. Rechts ein Park hinter schwarzen Gitterstäben. Dann das Gewirr von Einkaufsfassaden. Cafés. Kleidermarkengeschäfte. Discountläden. McDonald’s. Segafredo Espresso. Pizza Hut. Ein Rahmenmacher. Möbelstoffe. Souvenirs. Sie ging. Sie sah nach den Hausnummern. Das Hotel musste hier irgendwo sein. Links über der Straße Gärten zu sehen. Hinter den Hausreihen beim Blick in die Quergassen. Das sah alles richtig aus. Bloomsbury Gardens lagen hinter Southampton Row. Und es war vollkommen richtig, das billigere Hotel hier auszusuchen. Die Frau im Reisebüro. Die nette Frau da. Sie hatte ihr dieses Hotel angeraten. Die war über ihre Sparwünsche nicht erstaunt gewesen. Aber sie war ihr überhaupt dankbar. Tenmer hieß diese Frau. Frau Tenmer. Und sie hatte einen leichten Akzent. Einen winzigen Akzent. Ein charmantes palatales L und ein Zungen-R. Früher hätte sie gewusst, woher diese Frau kam. Sie hätte behauptet, dass diese Frau Tenmer, die bei Atlantis Reisen arbeitete. Dass die aus Bulgarien kam. Oder aus Rumänien. Oder aus Kroatien. Jetzt. Sie hätte diese Frau gerne gefragt. Aber das hatte sich nicht ergeben. Und damit war wieder einmal bewiesen, dass Krisen einen zu einem netteren Menschen machten. Zu einem besseren. Jedenfalls war sie vorsichtiger geworden. In ihren Annahmen. Weil sie selber so schmerzerfüllt war, kannte sie die Schmerzen der anderen so gut. Als könnten die Schmerzen miteinander. Einander informieren. In eine andere Verbindung treten. Und würde sie dieses so viel tiefere Verständnis behalten. Würde sie das behalten wollen. Oder würde sie einfach so wie die Männer in der Krise. Ihre Liebesgeschichten hatten immer mit Männern in der Krise begonnen. Wenn die so weich und verständnisvoll waren. Wenn die alles verstanden, weil sie selbst Verständnis brauchten. Wenn die ihren Geist für ihr Selbstverständnis anwandten und einen Augenblick schön geworden. Sie hatte immer gerade verletzte Männer zu lieben begonnen und ihnen aus dieser Verletztheit geholfen. Eine Liebespflegerin. Aber die Männer waren in ihre Unverletzlichkeit zurückgekehrt und hatten die Schönheit ihrer Versehrtheit aufgegeben. Und letzten Endes hatte sie ihre Verletzlichkeit. Die Angst vor Verletzung. Das Wissen um die Versehrung. Das hatte sie. Optimiert. Das hatte sie optimiert. Darin war es richtig, in Bloomsbury zu sitzen. In Bloomsbury zu schlafen versuchen. Aber sie hatte keine Sehnsucht nach einem Abend im Bloomsbury Circle. Virginia Woolf hatte ja auch in die Cotswolds reisen müssen, wenn es schlimm mit ihr geworden war. Alle diese netten gebildeten und empfindlichen Menschen. Sie waren immer nur mit ihrer eigenen Empfindlichkeit beschäftigt. Mit ihrer ironischen Transzendenz. Die waren immer auf dem Weg zu einer Selbstrettung. Und eine Frau in der Krise. Man hatte ihr zu Beherrschung geraten. »So beherrschen Sie sich doch.« hatte es geheißen. »Du kannst doch nicht die Beherrschung verlieren.« Sie ging. Sie musste Acht geben. Die Entgegenkommenden eilig und blicklos. Sie musste ausweichen. Sie wurde überholt. Menschen hastig an ihr vorbei. Sie anstießen. Mit Einkaufstaschen an ihr vorbeistrichen. Das war lange her. Virginia Woolf. Eine Erinnerung in mezzotinto. Etwas von ferne her. Vage. Und einmal wünschenswert gewesen. Sie war über »Jacob’s Room« gesessen. Lange.
Weitere Kostenlose Bücher