Entfernung.
Wort für Wort. Und das eine Bild. Der Blick über die Stufen von St. Paul’s. Sie war nie zu St. Paul’s gegangen. Sie hatte auf all den vielen Reisen hierher. Sie hatte St. Paul’s vermieden. Sie hatte Virginia Woolf das Bild bewahren wollen. Hatte die Wirklichkeit nicht gegen diese Schilderung eintauschen wollen. Hatte nicht die Wirklichkeit an dieser Schilderung messen wollen. Sie hatte sich Virginia Woolf darin anvertraut. Hatte darauf vertraut, dass Virginia Woolf die Wirklichkeit beschrieben hatte. Ihre Wirklichkeit. Sie hatte ihre nicht dagegensetzen wollen. Sie ging ja auch nicht in Literaturverfilmungen. Sie hatte schon lange nicht mehr zusehen können, wie ihre leichten und durchscheinenden. Ihre durchsichtigen Bilder von einem Roman. Wie die in dickfarbige Plumpheiten gerammt wurden. Und wie die Filmbilder ihre Vorstellungen übermalten. Pastos und bunt glänzend. Und das Schlimmste war das dann im Theater. Es war schon passend, dass eine ihrer letzten Aufgaben diese Dramatisierung in Zagreb gewesen war. Diese »Anna Karenina«. Da hatte sie sich auch noch diesen Roman wegnehmen lassen. Zu allem, was sie sich wegnehmen hatte lassen, kam ja dann noch dieser Roman dazu. Und »Anna Karenina«. Sie ging an Restaurants vorbei. Ein Papiergeschäft. Auf der anderen Seite ein »Viennese Café«. Alle Menschen trugen Einkaufstaschen. Plastiksäcke. Trugen schwere Taschen. Quer über die Schultern. Rucksäcke. Einen Augenblick das Weinen. Das Weinen als Überfall. Wie diese Madonna in Neapel. Die zu bestimmten Zeiten in Tränen ausbrach. Immerhin war es bei ihr kein Blut, das aus den Augen rann. Aber ab einem bestimmten Punkt von Müdigkeit oder Verdrossenheit. Wenn das kreisende Denken über ihre Lage vom Kopf in die Brust gefallen war. Aber dort eine Lähmung. Eine in sich kreisende Lähmung erreicht hatten. Dann begannen die Tränen zu rinnen. Ohne Schluchzen. Das war eine Erleichterung. Das Schluchzen anstrengend. Das Schluchzen so anstrengend, dass nichts mehr möglich war. Und Muskelschmerzen. Eine Müdigkeit nach dem Schluchzen, als hätte sie einen sehr hohen Berg erstiegen. Aber nur das Steigen und die Aussicht nicht. Das Schluchzen eine belohnungslose Anstrengung. Das stille Weinen. Mit ein Grund, das Schminken aufzugeben. Und ihre Wimpern feucht dunkler aussahen. Überhaupt. In ihrem Alter es schwer war, ein make up zu finden. Meistens waren die foundations nicht fein genug, die größeren Poren auszukleiden. Die billigeren Produkte sich in den Poren absetzten und kleine helle Punkte machten. Die Poren so erst richtig betonten. Da war kein make up gleich besser. Sie fand sich vor dem Hotel. Eine schmale Fassade. Glasüberdachter Aufgang. Stufen zur Eingangstür. Selma war erleichtert. Sie war den ganzen Weg nicht sicher gewesen, die richtige Richtung gewählt zu haben. Sie brauchte Wasser. Sie musste trinken. Im Hotel gab es sicher keine Minibar. Höchstens sehr teures Mineralwasser an der Rezeption. Oder im Café. Sie konnte sich Tee kochen. Im Teebereiter des Prospekts. Aber für Tee war es zu heiß. Sie drehte um. Sie ging zurück. Sah sich um, wo sie Wasser kaufen könnte. Restaurants. Bars. Bistros. Das Papiergeschäft. Kleider. Taschen. Koffer. Glas. Stoffe. Keine Lebensmittel. Sie sah kein Lebensmittelgeschäft. Eine Weinhandlung. Sie ging. Auf der anderen Straßenseite das Gleiche. Ein Fahrradshop. Boutiquen. T-Shirts. Baseballmützen. Auf ihrer Seite. Zeitungen vor einem Geschäft. In hohen Ständern ausgestellt. Tony Blair machte irgendetwas. Bush machte etwas. Im Irak passierte etwas. Eine blonde Frau hatte es in »Big brother« vor der Kamera getrieben. Ein kleines Bild von der riesigbusigen Frau. Ein großes von einem deckenüberdeckten Haufen auf einem Bett. Das Bild war grobkörnig und unscharf. Ein Bild aus einem Video. Sie ging in das Geschäft. Der Raum groß. Weit nach hinten. Auf der linken Seite Papierwaren. Grußkarten. Selma ging nach hinten. Für alle Gelegenheiten gab es Antworten. Birthdays. Graduation. Weddings. The New Job. Success. Births. New Home. Significant Other. First Communion. Death. Anniversary. Valentine’s Day. Christmas. Easter. Holidays. Jederzeit jede Gelegenheit. Mit Zitaten. Mit Zeichnungen. Mit Reproduktionen. Nur mit Schrift. In allen Formaten und Farben. Das ganze Leben. Im Nebengang Souvenirs. Sie fand eine Krawatte aus schwarzblauer Seide, auf der winzig das underground-Logo aufgedruckt war. Sie schaute auf den Preis. 2 Pfund 50. Wenn ihr genug Geld
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