Entfernung.
hielt sich an einer der orangen Schlaufen fest. Nicht wieder hinausgedrängt zu werden. Aussteigen zu müssen. Den Aussteigenden Platz zu machen. Platz machen zu müssen. Und dann konnten die Ausgestiegenen nicht mehr zurück. Plötzlich war kein Platz für sie. Die Wand der Menschen im Wagen geschlossen. Zu dicht, wieder einsteigen zu können. Obwohl ja Personen den Zug verlassen hatten. Es war kein Platz zurückzukommen. Die Ausgesperrten. Wütende Gesichter. Drohend erhobene Fäuste. Schläge gegen die Türen. Ein Mann wollte nicht zurückbleiben. Er hielt sich am Haltegriff neben der Tür fest. Er klammerte sich fest. Die Türen schlossen sich. Zwängten ihn ein. Schoben ein zweites Mal. Dann gingen alle Türen wieder auf. Der Mann drängte sich weiter in den Wagen. Sein Gesicht verzerrt. Entschlossen. Die Türen konnten sich wieder nicht schließen. Er hing noch immer aus dem Wagen. Eine Durchsage. Das Warnpiepsen erklang wieder. Die Menschen im Wagen. Ein Murren erklang. Man könne keinen Platz mehr machen. Das müsse er doch sehen. Und dann »You better get out.« Jemand neben Selma sagte, dass das doch keinen Sinn mache. Der nächste Zug käme doch gleich. Selma starrte auf den U-Bahn-Plan über der Tür. Sie hoffte, dass die Striche das bedeuteten, was sie angenommen hatte. Dass wirklich die Richtung des Aussteigens gemeint war, mit diesen Strichen. Und dass sie die Richtungen richtig interpretiert hatte. Sie war nicht gut mit Richtungen. Sie war immer gefahren und Anton hatte in den Plan geschaut. Sie hatte den Orten gegenüber immer mehr Gefühle gehabt. Als Richtungen. Sie hatte sich noch immer zurechtgefunden. Aber nie mit der Sicherheit, einen Weg zu wissen. Auf einen Plan gesehen zu haben und dann die Richtung zu wissen. Sie hoffte, dass sie auf der richtigen Seite stand. Dass sie sich auf der richtigen Seite einklemmen hatte lassen. Sie sah sich bis ans Ende dieser Linie eingeklemmt und verschleppt. Dass sie irgendwo weit draußen aus diesem Zug überhaupt erst aussteigen können würde. Die Vorstellung verschreckend. Eine sich drehende Zusammenballung um den Nabel. Kreisend. Weich kreisend. Der Mann hatte den Zug verlassen. Er hatte sich auf den Bahnsteig zurückfallen lassen und die Türen hatten sich zwischen ihn und die Menschen im Wagen geschoben. Hatten sich vor der zusammengepferchten Menschentraube für ihn geschlossen. Der Zug fuhr. Sie dachte an den Mann aus Jamaica auf der anderen Seite des Wagens. Was machte der mit seinen zwei großen Kisten und den zwei großen Koffern. Wie schaffte der das auf den Bahnsteig hinaus. Der hatte mehrere Male ein- und aussteigen müssen, um alles in den Wagen zu schaffen. In Heathrow. In Holborn. Die Türen gingen auf ihrer Seite auf. Sie ließ sich mit hinausschwemmen. Hinausschieben. Sie konnte auch hier aussteigen. Wenn sie sich richtig erinnerte. Das Hotel lag zwischen Russell Square und Holborn. Sie ging. Folgte den Pfeilen in Richtung Ausgang. In Richtung Southampton Row. Die gekachelten Wände entlang. Grün und grau. Sie fuhr mit der Rolltreppe. Plakate für Musicals. »Mamma mia«. »Chicago«. »Sweeny Todd«. Das ist schon richtig, dachte sie. Nostalgie, Verbrechen und Menschenfressen. Und was für eine herzige Provinzlerin sie war. Sie war beleidigt, weil ihr niemand Platz gemacht hatte. Sie war in London. Die Hauptstadt der Härte. Besser, sie lernte es gleich. Es gab keinen Platz hier. Für niemanden. Die, die da mit ihr gestanden waren. Die hatten auch keinen. Die hatten auch keinen Platz. Und Hoffnung auch nicht. In Europa. Da träumten sie noch davon. In Wien. Da wollten sie daran noch glauben. Sie stand im Wind von unten. Auf der anderen Seite liefen Menschen die Rolltreppe hinunter. Stürmten hinunter, einen Zug zu erreichen. Polterten an den Stehenden vorbei. Überholten. Auf ihrer Seite standen die Menschen dicht gedrängt. Eine junge Frau mit Rucksack stieg an ihr vorbei hinauf. Sie stieg stetig. Kletterte mit der Rolltreppe mit. Sie war lange vor Selma oben angekommen. Selma sah ihrem Aufstieg zu. Es war heiß. In der U-Bahn waren die Fensterklappen offen gewesen. Ein kühlender Durchzug. Hier auch der Aufwind heiß. Oben. Die Halle vor dem Eingang zur Central Line voll. Sie musste ausweichen. Sich zum Ausgang durchschlängeln. Es war rush hour. Alle gingen schnell. Alle gingen zielgerichtet. Sie passte sich an. Sie ging durch den Gang zum Ausgang. Durch die Halle. Stimmengewirr und Schritte. Sie schob das Ticket in den Automaten an
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