Entfernung.
Bett. Die Schultern über den Knien. Das Genick. Sie ließ den Kopf fallen. Das Genick so nach hinten zu strecken. Den Kopf gegen die vorfallenden Schultern hochzustemmen. Das war die schlechteste Bewegung. Die machte das Genick am meisten kaputt. Den Rücken straffen. Nicht auf Betten zusammensinken. Liegen. Sitzen. Gehen. Nur nicht kauern. Und nicht die Schultern hängen lassen. Die Frau Veronika. Das konnte die so aufsagen. Rundherum das Summen der Praxis. Ein murmelndes Schleifen und Gehen. Alle immer in Bewegung. Die 20 Minuten Behandlungsdauer für die Kassenpatienten. Die waren immer gerade für irgendjemanden zu Ende. Aufstehen vom Massagebett. Anziehen. Umziehen. Ausziehen. Der Nächste bitte. Krankengymnastik. Heilmassage. Wärmetherapie. Thalassotherapie. Fangopackungen. Die waren immer in Bewegung. Die Ärztin immer auf dem Sonnenbett. Neben der Krankengymnastik. Und alles durchzuhören. Die Wände pappendeckeldünn. »Es braucht ja niemand das Sonnenbett. Oder?« »Meine Tochter kommt nächste Woche nach Wien und da muss ich toll aussehen.« »Herr Franz. Können Sie mir noch einmal nachstellen.« Und die Frau Veronika sagte ihre Formel auf. Liegen. Sitzen. Gehen. Nur nicht kauern. Nicht die Schultern hängen lassen. Nicht den Kopf auf die Hände stützen. Und bitte. Nicht im Bett lesen. Das ist das Allerschlechteste für ihr Genick. Und dann war es gleich vorbei. Zwei Übungen. Und während die Frau Veronika sie mit der Iliosakraltherapie in die Zange nahm. Ihren Kopf in ihre Hände einzwängte und darauf wartete, dass sie zu weinen begann. Die Frau Veronika hinter ihr. Lauernd. Auf einen Ausbruch wartend. Leise atmend, ihr gerade genug Raum ließ, in einen Ausbruch zu geraten. In der Nebenkabine die Dr. Wendelin. In die UV-Strahlen eingeklemmt. Von oben und unten zwischen diesen strahlenden Röhren. Seufzend. Diese Frau seufzte vor sich hin. Schnüffelte ein bisschen, während sie sich rösten ließ. Das Raunen und Gehen hinter den Wänden auf dem Gang und wieder hinter dünnen Wänden. Die Masseure, die sich die Patientinnen aufteilten. Nach Trinkgeld. Und sie lag da und sollte Heilung finden. Von den Genickschmerzen. Und die Wendelin. Hatte die keine Angst vor einem Melanom. So oft sie da gewesen war. In der Praxis. Die Wendelin hatte sich immer beim Herrn Franz auf das UV-Bett gelegt. War in der Nebenkabine gelegen. Und was war ihr da anderes übrig geblieben, als an die Mutter zu denken. Und an das Melanom. Und kein Wunder, dass dann die Tränen rannen. Und die Frau Veronika sich denken musste, dass diese Tränen die Heilung. Dabei weinte sie um diese Frau. Sie hatte um die Wendelin geweint. Um diese grässliche Person, die sich da walrossseufzend im UV-Licht wälzte und sich einen Krebs holte und ihr nicht geholfen hatte. Ihr Genick nicht besser. Und die Umgebung so anstrengend. Diese Praxis für physikalische Medizin ein solches Fegefeuer auf dem Weg zu einer Gesundheit. Aber diese Praxis musste einem einfallen. Das Beige dieses Zimmers genauso wie die Wände dort. Dieses Zimmer beige-senffarben. Dieses Zimmer senffarben. Und das Beige nur die Erinnerung an Hellsenffarbenes minderte. Das Neonsenffarbene von Erbrochenem oder Durchfall. Sie schloss die Augen. Sie legte den Kopf auf die verschränkten Arme auf den Knien. Jetzt war sie einmal da. Und sie würde gleich aufstehen. Und nur Stehen. Sitzen. Liegen. Und keine schädliche Zwischenhaltung einnehmen. Und sie musste den Hosenanzug aufhängen. Und dann musste sie mit dem Hosenanzug in der Dusche duschen und ihn durch den Dampf wieder in Form bringen. Selma stand auf. Sie sah die Fernbedienung auf dem Nachtkästchen liegen. Sie schaltete den Fernsehapparat ein. Ein Hotelkanal. Das Restaurant wurde vorgeführt. Sie schaltete weiter. Eine Heimwerkersendung. Frische junge Menschen rissen in einer Küche Kacheln von der Wand. Im nächsten Kanal ging ein Mann in einem Garten und erklärte die Pflanzen und warum sie da miteinander gepflanzt waren. Dann saß Prinz Charles auf einem Baumstamm und erzählte etwas. Sie schaltete weiter. Eine talk show. Das war gut. Das würde das Beste für ihr Englisch sein. Sie begann sich einzurichten. Das Necessaire ins Badezimmer. Die Unterwäsche in den Kasten. Den Pyjama auf den Sessel. Die talk show über den schönsten Tag im Leben einer Frau. Sie untersuchte das Bett. Das Leintuch dünn. In der Mitte der Stoff nur noch ein dünnes Gitterwerk der Fäden. Die Plastikmatte darunter dunkelgrün. Durchschimmernd.
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