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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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neues Leben beginnen. Ihre Vergangenheit war gestrichen. Lange bevor ihr etwas klar werden hatte können, hatte dieser Mann ihre Vergangenheit gelöscht. Er hatte sie an sich genommen und im Küchenabfall versteckt. Ihre Bilder waren mit einem der orangen Müllabfuhrwagen in die Müllverbrennung Spittelau gefahren worden. Der Rauch von ihren verbrannten Bildern war durch den Rauchfang dieses unsäglichen Hundertwasserverbrechens hinaufgestiegen. Und das war es, was ihr widerfuhr. Dass ihre Erinnerung. Dass die Erinnerung an sie. Dass die in dieser Scheußlichkeit von Gebäude endete. Das war sein Tun. Das geschah mit ihr. Aber es betraf sie nicht. Und wenn noch einmal jemand zu ihr sagte, dass schließlich Zwei dazu gehörten. Wenn eine Liebesgeschichte zu Ende ging. Dann musste sie die nur wieder an die Invasion von Polen erinnern. Und ob die Juden auch schuld waren an ihrer Vernichtung. Sie musste sich dieser Scheißpsychologisierung entziehen. Endgültig entziehen. Es war Krieg. Der Anton hatte ihr den Krieg erklärt. Die Welt hatte ihr den Krieg erklärt. Sie durfte sich nicht mit der Suche nach Erklärungen aufhalten. Die Zeit für kostbare Nachforschung nach komplizierten Motivationen. Das war beendet. Was immer passierte. Sie durfte den Fehler nicht noch einmal machen. Sie durfte sich nie wieder auf der Seite der Mächtigen fühlen. Auf der Seite der Wissenden. Sie hatte sich zu sicher gefühlt. Sie war nichts anderes gewesen als eine Übersetzerin. Eine kleine Übersetzerin, die nur Fetzen vom Text zur Übersetzung bekommen hatte. Die sich nicht darum gekümmert hatte, was das Fehlende bedeutete. Was die Textfetzen bedeuteten, wenn man sie zusammenfügte. Sie war der Oberfläche aufgesessen. Und unter der Oberfläche. Da wurde geschlachtet. Da fragte niemand nach den Motiven. Da ging es um Leben oder Tod. Und sonst war nichts gültig. Und niemand. Sie zog die Hosen an. Der Stoff kühl auf den Oberschenkeln. Die Oberschenkel knochig. Die Oberschenkel griffen sich knochig an. Die Beine besonders dünn geworden und sie hätte sie eigentlich herzeigen sollen. Sie hätte einen kurzen Rock anziehen sollen und ihre so schlanken Beine genießen. Aber dann hätte sie in der Sonne liegen müssen. Sie schlüpfte in die Schuhe. Beugte sich hinunter. Sie musste sich auf den Sessel setzen. Das Hinunterbeugen. Sie hätte ins Taumeln kommen können. Sie hatte die Zähne nicht geputzt. Aber sie hatte auch nichts gegessen. Sie saß da. Es war ja auch ganz gleichgültig. Sie musste zu dieser Verabredung. Zum neuesten Lieblingsitaliener von Gilchrist, der immer schon der neueste Lieblingsitaliener war. Sie hatte ihn immer nur da getroffen. Zum dinner. Und sie musste weitermachen. Sie putzte die Zähne nicht. Sie zog die Jacke an. Nahm die Tasche. Sie steckte die Schlüsselkarte in das Seitenfach zum Pass. Sie konnte das alles vom Sessel aus machen. Das Zimmer so klein, nichts außer Reichweite gelangen konnte. Sie ging hinaus.

13
    Die Tür fiel hinter ihr zu. Glitt zu. Ein kurzes helles Geräusch. Sie ging zum Lift. Drückte auf den Knopf. Wartete. Die Glaskabine kam von oben angeschwebt. Leer. Sie sah den Türen zu, wie sie zur Seite rutschten. Erst die innere. Dann die äußere. Sie stieg ein. Drückte 1. Der Lift sank. Blieb gleich wieder stehen. Der Mann vom Hinauffahren stieg ein. Er nickte. Sah durch die Glaswand hinaus. Auf die Halle hinunter. Er hatte die gleiche Krawatte um. Den gleichen Anzug an. Selma sah an ihm vorbei durch das Glas. Sah die Stiegen vorbeiziehen. Eine Frau die Stiegen hinauf. Sie trug Papiere. Sah beim Gehen in die Papiere. Die Rezeption von oben. Dann auf gleicher Höhe. Langsam. Der Lift langsam, aber unmerklich. Die Bewegung nur zu sehen. Nicht zu spüren. Der Mann ließ ihr den Vortritt. Sie ging an ihm vorbei. Murmelte »thank you.« Sie lächelte. Sie ging schnell davon. Schnell durch die Halle. Schnell durch die Schwingtür die Stufen hinunter auf die Straße. In die Hitze. In den Lärm. Zwischen die Menschen auf dem Gehsteig. Zwischen die hastenden und eilenden Menschen. Ein Geschiebe in alle Richtungen. Sie zögerte, in welche Richtung sie gehen sollte. Sie wurde angestoßen. Zur Seite geschoben. Sie bog nach links. Sie ging den Weg zurück zur U-Bahnstation Holborn. Es war gleichgültig, welche Station sie nahm. Sie musste einmal umsteigen. Sie konnte das auch in Notting Hill Gate machen. Sie konnte auch da in die Circle Line umsteigen. Und den Weg hier. Den war sie schon gegangen. Den

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