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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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vornehm bleiben. Würde sie sich zu vornehm bleiben müssen. Weil sie es nicht mehr lernen würde. Weil sie es nicht mehr lernen konnte. Weil sie zu alt war. Sie würde es nicht mehr lernen. Sie würde es nicht mehr lernen können, sich über so einen Pfosten zu schwingen und davonzulaufen. Sie war zu alt. Sie war zu verletzt. Und es war ganz klar. Sie war als Opfer zu erkennen. Für so einen Dieb. Für so einen Kleinverbrecher. Da hatte der Anton und der Intendant und das Arbeitsamt und die Ungarin und die Theres. Die hatten ihr etwas auf die Stirn gemalt und der Dieb konnte das lesen. Und ganz am Anfang der Vater. Und er hatte Recht. Sie gehörte zu einer Verlierernation. Sie gehörte zu einem Land, das jahrhundertelang immer verloren hatte. Wahrscheinlich hatte er ihr das eingepeitscht. Sie war ein Verliererkind. Am Ende war dann ja auch da alles weg gewesen. Sie saß da und war eine Verliererin. Jedem hier im Wagen unterlegen. Den Indern da. Diesen Schulkindern. Dem Schwarzen ihr gegenüber. Der da in seinem italienischen Anzug saß. Der da thronte. Der da seine »Times« las. Der so perfekt manikürte Finger hatte. Und eine Clubkrawatte. Dieses Moosgrün mit gelbgoldenen kleinen Wappentieren darauf. So etwas war eine Clubkrawatte. Das wenigstens hatte ihr Keith beigebracht. Den hatte sie damals verachtet. Weil er so angepasst gewesen war. Weil er nur an seine Karriere gedacht hatte. Weil er nur damit beschäftigt gewesen war, wer bei einem Cocktail wichtig. Der dann auf diese wichtigen Personen zugesteuert war und sich eingeschleimt hatte. Der von ihr immer wissen hatte wollen, was ihre Familie bedeutete. Was ihre Familie für eine Bedeutung hatte. Der eine Erzherzogin haben hätte wollen. Damit er bei den wichtigen Personen auch noch eine Frau mit Abstammung vorweisen hätte können. Der hatte sich wahrscheinlich mit ihr als Österreicherin nur abgegeben, weil er auf eine Prinzessin gehofft hatte. Weil alle Österreicherinnen nach den Sissi-Filmen. Und es war ja wahr. Alle Österreicherinnen waren nach den Sissi-Filmen Prinzessinnen geworden. Mussten nach den Sissi-Filmen Prinzessinnen sein. Und wie die Kaiserin in der Wirklichkeit, mussten dann auch alle vom Mann enttäuscht sein. Unfähige Liebhaber. Alles zertrampelnde Hornochsen. Immerhin hatte sie sich diesem Mann nicht erklärt. Warum hätte sie die Familien herauszerren sollen. Für einen, der ohnehin nur eine Stellung konnte und der mit ihr das erste Mal in ein Konzert gekommen war. Was konnte der von den geheimnisvoll verschlungenen Pfaden einer Wiener Familiengeschichte wissen. Von den tiefen Schnitten in den Glaubensfragen. Von den Rissen durch die Erbschaften. Von den Beraubungen. Von den Schlachthöfen. Damals hatte sie sich überlegen gefühlt. Sie hatte ihn nicht mehr angerufen, weil er ihr primitiv vorgekommen war. Primitiv mit seiner einzigen Stellung und seinen Schmalspurplänen und seiner Unwissenheit. Heute war er CEO. Wahrscheinlich. Obenauf. Und sie. Sie war sich besser vorgekommen. Weil sie sich einen kritischen Apparat erobern hatte wollen. Einen kritischen Apparat für sich entwickelt hatte. Heute. Jetzt. Sie saß kostbar und verletzt in der underground und musste sich einem Schwarzen unterlegen fühlen. Weil er zu den Siegern gehörte. Mit cool wool und Clubkrawatte und einer kleinen Asiatin, die ihm die Hände manikürte. Zu der er in der Mittagspause ging. Der er gegenübersaß. Die eine Hand im Handbecken mit dem lauwarmen Seifenwasser. Die andere auf dem Pölsterchen und der Kopf der Asiatin darübergebeugt. Und die Füße. Ließ er die Füße auch gleich machen. Und reichte die rosig beigehelle Haut bei den Füßen genauso über die Seite herauf wie bei den Händen. Sickerten die beiden Hautfarben am Außenrand der Füße auch so ineinander wie am äußeren Handballen. Reichten so ineinander. Der Mann blätterte um. Sie hatte gar nicht gleich gesehen, dass er die »Times« las. Die »Times« das Format der »Kronenzeitung«. Aber beim Umblättern. Es war plausibel. Sie hatte es nie richtig gelernt, diese übergroßen Zeitungen so zu falten, dass man sie bequem in der Hand halten hatte können. Sie war eine Kaffeehauszeitungsleserin gewesen. Auf die Zeitungshalter aufgespannte Zeitungen. Sogar im Büro hatten sie solche Zeitungshalter gehabt. Damit niemand die Zeitungen zerfledderte. Oder das Feuilleton stahl. Die Zeitungen waren mit Heftklammern zusammengeheftet und in die Zeitungshalter eingespannt worden. Gekreuzigt und

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