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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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geschlagen. Der Mann gegenüber blätterte wieder um. Schnell. Mehrere Seiten. Der Zug raste durch das Dunkel. Der Mann gähnte. Er starrte in die Zeitung und schloss den Mund gleich wieder über seinem Gähnen. Drückte den Luftstrom des Gähnens durch die Nase hinaus. Das Gähnen nur eine kleine Grimasse. Gleich wieder in den Griff bekommen. Er riss nicht den Mund auf. Sperrte die Kiefer auf und ließ sich in den Rachen sehen. Ließ sich genüsslich Zeit. Ließ das Gesicht, den Mund, den Rachen sich dehnen. Und einen winzigen Laut. So ein Ächzen. So ein Gähnstöhnen. Das einen zum Kind machte. Wieder. Zum unbeherrschten Kind. Das machte dieser Mann nicht. Dieser Mann war beherrscht. Dieser Mann war die Vollkommenheit der Zivilisation. Assimiliert, dachte sie. Vollkommen assimiliert. Und das war ja immer das Problem mit dem Assimilieren. Dass man die Assimilierten für die Assimilation nicht mochte. Weil sie ein Eigenes verraten hatten. Weil sie nicht mehr authentisch waren. Sie saß da. Sah den Mann gegenüber an. Seine Haut samtig dunkelbraun. Die Haare kurz, seine Kopfhaut zu sehen. Das samtige Dunkelbraun überall. Der Kopf ein perfektes Rund und das Gesicht breitstirnig und breit in den Backenknochen nach unten in einem Oval abschloss. Die Augen. Sie konnte die Augen nicht sehen. Seine Augen auf die Zeitung. Er las die Zeitung als wäre er alleine. Als säße er irgendwo alleine. Ein schöner Mann. Die langen Beine nebeneinander. Zum Übereinanderschlagen kein Platz. Sie konnte sich vorstellen, wie er in einem Clubsessel. In einem elegant schäbigen Chippendale-Sessel dasaß. Die Beine übereinander geschlagen die Zeitung lesend. Die italienischen Mokassins. Er trug schwarzledern glänzende Mokassins und keine Socken. Die Fußgelenke. Fesseln. Sie fragte sich, ob man die Fußgelenke bei einem Mann auch Fesseln nennen konnte. Oder war das ein Ausdruck, der nur für die Füße von Frauen und Pferden angewendet werden durfte. Der Zug blieb stehen. Fuhr weiter. Der Mann saß ihr gegenüber. Sie starrte vor sich hin auf seine Füße. Sie sah sich zu. Sie hatte Mitleid gehabt. Erst. Das überlegene Mitleid der Überholten. Der von den Assimilierten Überholten. Das Mitleid, dass jemand es sich holen hatte müssen. Dass jemand ihre Kultur benötigt hatte, um aufsteigen zu können. Dann hatte sie seinen Körper in den Blick genommen. Sie beurteilte ihn. Ein bisschen begehrlich, aber imgrund. Ein Sklavenhändler würde es nicht anders machen. Und dann war sie bei der Verachtung angekommen. Sie konnte den Weg sehen. Sie wiederholte sich den Weg. Sie saß da und beurteilte und bemitleidete und verachtete diesen Mann. Sie wünschte sich, er hebe den Blick und sie könnte ihm das mit ihrem Blick erzählen. Aber er hob den Blick nicht, und sie begann ihn zu hassen. Sie hatte ihm eine Chance gegeben. Schließlich. Wenn er sie angesehen hätte, dann hätte sie die Verachtung ohnehin gleich verborgen. Sie war eine Antirassistin. Sie hatte immer alles getan, genau diese Blicke zu verhindern. Sie hätte auch in diesem Augenblick funktioniert und ihn ohne Meinung angesehen. Sie hätte sich bewähren können. Aber er hatte ihr diese Möglichkeit nicht gewährt. Sie beobachtete sich. Sie hörte sich selber zu. Sie war nicht erstaunt. Über sich. Die Kette der Argumente. Die Argumente und die Gefühle. Es war angenehm. Tief irgendwo innen. Es war angenehm. Solange sie sich zusehen konnte dabei, dachte sie. Entlastend. Es war nicht richtig. Es war nichts richtig daran, so zu fühlen. Und es waren die Gefühle zuerst und dann die Argumente. Der Hass quoll hervor. Von irgendwo tief innen quoll der Hass hervor. Die Argumente sprangen den Gefühlen zur Seite. Gaben den Gefühlen Begleitschutz. Sie saß in der Londoner underground und ließ sich eine Rassistin sein. Sie genoss das. Die Gefühle hatten sich vollkommen von ihr abgespalten. Füllten den Unterleib aus. Den Unterleib und den Bauch. Fest. Eine feste Grundlage. Und sie war geschützt. Sie saß da und es betraf sie nichts mehr. Es war ganz gleichgültig, wie sie angesehen wurde. Wer ihr das Ticket stahl. Wer sie aus dem Weg schob. Wer sie blöde Kuh nannte. Sie war mit dieser wohligen Sicherheit ausgefüllt. Oxford Circus. Bond Street. Marble Arch. Lancaster Gate. Queensway. So ist das also, dachte sie. Sie sah an sich hinunter und spürte dieses Gefühl. Die Sicherheit, die das gab. Die Standfestigkeit. Es war ihr nicht einmal mehr zu laut. Oder zu heiß. Sie stand auf. Der

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