Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
um ihr Element zu steuern und Trost aus dessen vertrauter Wärme zu schöpfen.
»Ich denke, deine Frage muss jeder Einzelne für sich beantworten.«
»Also geben Sie mir keine Antwort?«
Kalona zögerte. Shaunee sah, wie sich mehrere Emotionen in seinem faszinierenden Gesicht spiegelten: Trauer, Zweifel, sogar Verärgerung. Ein unwilliges Beben ging durch seine Schwingen, aber schließlich antwortete er doch.
»Als ich Nyx verloren hatte, konnte ich den Verlust nur ertragen, indem ich all die Liebe, die ich für sie empfand, durch Zorn ersetzte. Solange ich vor Zorn glühte, konnte ich mir einreden, es sei ein Fehler gewesen, sie zu lieben.« Er sah Shaunee an, und in seinen bernsteinfarbenen Augen schien äonenaltes Leid zu liegen. »Die Wut aufrechtzuerhalten erforderte einen Preis, und dieser Preis bestand aus Gewalt und Tod, Finsternis und Vernichtung.«
»Aber wäre es nicht logischer gewesen, zu Nyx zu gehen und ihr zu gestehen, dass Sie nicht ohne sie leben wollten?«
Kalonas Lächeln war unendlich traurig. »Mein Stolz hielt mich davon ab, einen Weg zu ihr zurück zu suchen.«
»Und jetzt? Ist das immer noch so?«
»Nein. Jetzt weist Nyx mich zurück.«
»Das wird sie sicher nicht auf ewig machen.«
»Du bist noch jung«, sagte er. »Noch ist es dem Leben nicht gelungen, dir die Fähigkeit zu hoffen zu nehmen.«
»Na ja, ich kenne Nyx nicht so gut wie Sie, aber ich glaube ganz fest, dass sie gerecht und zur Versöhnung bereit ist. Das hat sie schon oft bewiesen – ich hab’s mitbekommen. Und ich bin erst achtzehn.« Shaunee machte eine Pause. »Vielleicht kommt es nicht darauf an, wie lange man gelebt hat oder ob man noch hoffen kann, egal wie hoffnungslos die Lage aussieht. Vielleicht kommt es nur darauf an, wie stark man glaubt.«
»Ich glaube, Kind. Ich glaube, dass Nyx allen vergibt, die sich dessen als wert erweisen.«
»Dann glauben Sie nicht, dass Sie dessen wert sind.«
»Ich weiß, dass ich es nicht bin.« Er neigte leicht den Kopf. »Halte Wacht bei deiner Freundin. Ich will dich nicht länger stören.« Und er verschmolz mit der Dunkelheit.
Shaunee wandte sich wieder dem Scheiterhaufen zu und hob auch die andere Hand. Sie trat sogar noch einen Schritt näher, ließ sich von ihrem Element durchfließen und sprach ein Gebet, das sich mit dem aufsteigenden Rauch vereinigte.
»Göttin, das hier ist mein Abschied von Erin. Ich weiß, sie ist bei dir und hat jetzt Frieden. Danke, dass du sie liebst und dich um sie kümmerst. Danke auch dafür, dass du Kalona liebst und dich um ihn kümmerst, denn ich weiß ganz genau, dass du niemanden im Stich lässt, den du liebst, egal was passiert.«
»Du hältst dich für so viel besser als mich, was?«
Sie zuckte zusammen. Und dann konnte sie erst mal kein Wort sagen, weil sie sich auf ihr Element konzentrieren musste. Der lodernde Scheiterhaufen spiegelte ihren Schrecken wider, und hätte sie ihn nicht gebändigt, so wären die Flammen instinktiv über Dallas hergefallen.
Als sie ihr Element gezähmt hatte und in der Lage war, sich Dallas zuzuwenden, stand der Vollidiot immer noch mit seinem lauernden Grinsen da, ohne zu ahnen, dass sie ihm gerade das erbärmliche Leben gerettet hatte.
»Nein, ich halte mich nicht für besser als dich, Dallas. Ehrlich gesagt denke ich so gut wie nie über dich nach.«
»Erin hat dich für ’n versnobtes Miststück gehalten.«
Statt aufzubrausen, biss Shaunee sich auf die Unterlippe. Sie hätte ihm mit scharfen Worten oder mit ihrem Feuer einheizen können, aber dazu hatte sie wenig Lust, erst recht nicht vor Erins Scheiterhaufen. Also dachte sie einen langen, unbehaglichen Augenblick lang nach und fragte dann das Netteste, was ihr einfiel: »Bist du denn sicher, dass du so genau wusstest, was Erin denkt?«
»Natürlich wusste ich, was sie denkt. Ich hab sie gefickt.« Er kam ein paar Schritte auf Shaunee zu, und sein Grinsen wurde anzüglich. »Oder hast du sie etwa auch gefickt?«
Shaunee starrte ihn an, so geschockt von dieser hundsgemeinen Ignoranz, dass ihr die Worte fehlten.
»Oooh Maaann! Wusste ich doch, dass ihr abnorm zusammenklebt. Du hast sie echt gefickt! Und sie hat’s mir nicht mal erzählt. Schade aber auch! Wir drei hätten ’ne Menge Spaß haben können.«
Die Flamme, die in Shaunee entbrannt war, wurde gleißend hell. Ihr Denken klärte sich. Ihr Blick bannte Dallas.
»Ich hab dich noch nie leiden können, schon als du mit Stevie Rae zusammen warst. Ich hatte immer ein komisches
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