Entfesselt
das durchweichte Tuch, in dem mein zweites Kleid, meine zweite Schürze und mein zweites Kopftuch steckten. Und statt anderthalb Tage sterbenskrank herumgeschleudert zu werden, wie Incy und ich es einmal auf einem Kreuzfahrtschiff erlebten, das vor der Küste Australiens in einen gewaltigen Sturm geriet (auch kein Zuckerschlecken, aber überhaupt kein Vergleich zu meiner Reise nach Norwegen!), musste ich auf dieser Überfahrt fast drei Wochen leiden. Was den Albtraum noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass ich in Norwegen niemanden kannte, nicht wusste, wohin ich gehen sollte. Außerdem hatte ich fast kein Geld mehr und auch keinen wirklichen Plan, abgesehen davon, mir irgendwo eine Anstellung zu suchen.
Es war wahrscheinlich das Mutigste, was ich jemals getan habe - alles hinter mir zu lassen, alles, was ich kannte, mein Land und meine komplette Vergangenheit. Ich nahm einen norwegischen Namen an, Ragnhild, mein erster Name, der nicht isländisch war.
Ich glaube, das Zweitmutigste, was ich je getan habe, war hierher nach River's Edge zu kommen, um zu retten, was immer von Nastasja noch übrig war. Denn es war von vornherein klar, dass es hart werden würde. Verdammt hart.
Das Drittmutigste fand im Augenblick statt: Ich blieb. Ich blieb, obwohl uns ein schrecklicher Kampf bevorstand. Ich blieb, obwohl ich kein wirkliches Vertrauen in meine eigenen Kräfte und Fähigkeiten hatte. Ich kannte die Menschen hier kaum sechs Monate und war mit keinem von ihnen verwandt. Einer davon war der Erzfeind meiner Familie. Ein paar von ihnen konnten mich nicht ausstehen.
Und doch war ich hier und hatte die Absicht zu bleiben. Meine erste mutige Tat war es gewesen, mein Volk zu verlassen; die dritte würde es sein, bei diesen Menschen zu bleiben. Es kam mir tapfer und gleichzeitig ungeheuer idiotisch vor, wie es bei so vielen mutigen Taten der Fall ist.
***
Himmel, nur gut, dass ich nicht paranoid bin und überall Gefahr wittere, denn dann würde mich diese Sache mit dem »Verräter unter uns« wirklich runterziehen!
»Süße, du siehst so trübsinnig aus«, sagte Brynne und stellte einen Sack mit getrockneten Bohnen auf die Küchenarbeitsplatte. »Was ist los mit dir?«
Auf einer Skala von eins bis zehn war die Verlockung, Brynne alles zu erzählen, ungefähr eine Dreizehn. Neben Reyn und River stand sie mir von allen Leuten hier in River's Edge am nächsten. Ich vertraute ihr.
»Abgesehen von der fiesen Schlacht, die uns angeblich bevorsteht?« Ich ließ Wasser in einen großen Topf laufen, fügte Salz und Pfeffer hinzu und kippte eine Ladung Bohnen hinein, die den Nachmittag über langsam vor sich hin kochen sollten. Damit war das Abendessen abgehakt. »Reicht das nicht?«
Brynne nickte, während ich nach meiner Jacke griff. Dann machten wir uns auf den Weg in die Scheune. Da ich nicht mehr in die Stadt fuhr, hatte ich viel mehr Zeit, an meinen magischen Fähigkeiten zu arbeiten. Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber ich hatte das Gefühl, dass ich besser und stärker wurde, was meine Magie betraf.
»Oh, Nastasja, Brynne.« Solis kam aus dem Raum, in dem wir Kräuterkunde hatten. Wie die anderen Lehrer wirkte auch er besorgt und müde. »Ich bin froh, dich zu treffen, Nastasja. Ich möchte dir anbieten, dich wieder zu unterrichten.« Er sah mich mit seinen blauen Surfer-Boy-Augen aufrichtig an. »Es tut mir sehr leid, dass ich eine Zeit lang Probleme damit hatte, dir zu vertrauen. Es ist so viel geschehen und wir alle mussten schwierige Entscheidungen treffen. Aber da River dir absolutes Vertrauen entgegenbringt, tue ich das natürlich auch. Um es wiedergutzumachen, könnte ich dir einige interessante Eigenschaften der Brennnessel zeigen. Oder mit dir am Wahrsagen mit Kristallen arbeiten.«
Hm. Ich war so sauer und verletzt gewesen, als Solis sich auf die Seite von Rivers unausstehlichen Brüdern geschlagen hatte. Und jetzt kam er an und gestand seinen Fehler ein. Die vertrauensvolle und höfliche Reaktion darauf wäre nun, sein Friedensangebot anzunehmen.
Dummerweise traue ich nur sehr wenigen Leuten und Höflichkeit habe ich mir schon um 1800 abgewöhnt.
Deswegen hatte ich kein Problem damit, sein Angebot abzulehnen. »Nein danke«, sagte ich.
Er war überrascht. »Oh ... ich merke schon, dass ich dich mit meinen unbedachten Handlungen tiefer verletzt habe, als ich dachte. Ich versichere dir, Nastasja, dass ich mein Misstrauen zutiefst bedaure.«
Ich wurde
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