Entfesselt
Richtungen sprossen. Manche Linien endeten abrupt, andere breiteten sich aus. Einige waren verzweigt, führten aber irgendwann wieder zusammen. Manche Linien waren von einem helleren Blau und einige machten kehrt und landeten wieder in dem Stern, aus dem sie hervorgegangen waren.
Jetzt waren die Linien ein feines Gewebe, das die ganze Erdoberfläche umspannte. Es sah aus wie ein Korallenriff, an manchen Stellen dicht und komplex, an anderen nur zart und dünn.
Zum Teil von intensiver Farbe, doch mittendrin tauchten immer wieder unregelmäßige weiß gebleichte Flecke auf. Das Gewebe war mit glühenden Lichtpünktchen übersät, die es lebendig wirken ließen, als pulsierte die Energie darin.
Ich war über Island und sah die ausgefransten Ränder, die tiefen Fjorde, wo sich die eisige See in das brüchige Land gefressen hatte.
Und da war unser Land, das Königreich meines Vaters: die schmale Bucht, der Fjord, das Stück Land zwischen Meer und Bergen, das die ersten zehn Jahre meines Lebens meine ganze Welt gewesen war. Würde ich hier landen, auf dem verbrannten, toten Boden, auf dem alles zerstört worden war?
Nein. Das Land unter mir flachte sich ab und verblasste. Jetzt sah ich nicht länger das Meer und die Berge, auch nicht mehr den Hundsstern und seine Flüsse, die für lange Leben standen. Es war eine ... Zeichnung, auf einem Tisch, hier in River's Edge, in der Bibliothek. Eine Zeichnung auf uraltem Pergament, das vor Alter schon ganz dunkel und brüchig war. Sie zeigte einen Baum, dessen knorrige schwarze Wurzeln den Boden förmlich zu umklammern schienen. Der Baumstamm war mit tief gefurchter Rinde bedeckt, die farblich von pfirsichfarben bis dunkelbraun variierte und fast genauso aussah wie die Landschaft, die ich zuvor betrachtet hatte.
Die Zweige waren verkrümmt und es waren nur wenige.
Viele waren abgeschnitten - manche sehr kurz, andere länger. Der Baum war so stark beschnitten worden, dass er deformiert wirkte - unausgeglichen und spindelig.
Ah, da war ich. An einer Seite des Baums hing ein einzelner Ast, dessen Ende sich verbreiterte wie ein Brokkoliröschen. Unterhalb einer Ranke entdeckte ich meinen Namen: Lilja. Aus meinem Zweig sprossen sechs Blätter, von denen eines abgefallen war. Eine weitere Linie vereinte sich mit meiner, doch ihren Namen konnte ich nicht lesen.
Zu beiden Seiten meines Zweigs tauchten die Namen meiner Brüder und Schwestern auf, doch ihre Äste waren kurz abgeschnitten worden. Links standen der Name meiner Mutter, Valdis,und der meines Vaters, Ulfur, und noch weiter links befanden sich weitere Zweige in unterschiedlichen Längen. Einer oder zwei waren kurz abgeschnitten. Aber ein großer Wasserfleck machte in dieser Ecke alles weitere unkenntlich. Das Wasser breitete sich schnell aus, durchweichte das Pergament und verwandelte Rinde, Wurzeln und Äste in einen grauen Wirbel. Ich versuchte, den Stammbaum aus dem Wasser zu reißen, aber meine Hände griffen ins Leere -
- und das war der Moment, in dem ich aus meiner Meditation erwachte. Ich saß auf juckendem Heu in einer Pferdebox, atmete schwer und hatte die Augen weit aufgerissen. Was hatte ich gesehen? Was bedeutete das alles? Ich musste mich hinlegen und darüber nachdenken, bevor ich es wieder vergaß.
Mein Herz pochte. Ich muss aufstehen, dachte ich. Aber noch während ich versuchte, meine Muskeln zur Mitarbeit zu überreden, zwängte sich Dufa durch die spaltbreit offen stehende Schiebetür und legte mir eine tote Ratte vor die Füße.
Mit einem erschreckten Aufschnaufen vergewisserte ich mich, dass sie sich wirklich nicht mehr bewegte, und starrte den Hund entgeistert an. Dufa saß hechelnd vor mir und schien mit ihrer Leistung überaus zufrieden zu sein.
»Dufa?«
Als sie Reyns Stimme hörte, wirbelte sie herum und gab ein kurzes Kläffen von sich. Er schob die Boxentür auf und sah mich in der Ecke sitzen, vor mir eine tote Ratte.
Es gibt auf der ganzen Welt kein Handbuch für Benimmregeln, das einen auf die richtigen Worte in dieser Situation vorbereiten könnte.
Reyn ließ seinen Blick kurz durch die Box wandern, als hoffte er, weitere Hinweise darauf zu finden, was hier vor sich ging. Schließlich sah er mich an.
»Schicke Ratte.«
»Die hat Dufa mir gerade vor die Füße gelegt«, sagte ich und meine Stimme hörte sich in meinen Ohren ganz merkwürdig an.
Als sie ihren Namen hörte, nahm Dufa die Ratte ins Maul und schüttelte sie so
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