Entfesselt
allmählich sauer. Zwar hatte Solis noch keine »Werft Nastasja raus«-Plakate durch die Gegend geschwenkt, ansonsten war er sich aber für kaum etwas zu schade gewesen. »Ich schätze, wir werden beide darüber hinwegkommen«, sagte ich.
Solis warf Brynne einen Blick zu, doch sie zuckte nur mit den Schultern. Auf dem Gang der Scheune ging eine Tür auf und Anne und River kamen heraus. Sie hielten die Köpfe gesenkt und waren ins Gespräch vertieft. Dann wurde die Außentüren geöffnet und Jess, Amy, Daniel und Reyn kamen herein. Reyn war der Letzte und Größte, und als er eintrat, blockierte sein Kopf einen Sonnenstrahl, sodass es aussah, als trüge er einen Heiligenschein. Das Leben kann ja so unfair sein.
Anne schaute auf und lächelte. »Das trifft sich gut«, sagt sie. »Ich habe gerade überlegt, ob wir eine Gruppenmeditation machen sollen, und ihr wärt die perfekte Gruppe.«
Na super.
»Ich denke, das sollten wir lieber lassen«, mischte sich River ein und Anne blinzelte verdutzt.
»Wieso?«
River wirkte verlegen. »Gruppenmeditationen sind im Moment vielleicht zu emotional aufgeladen. Wie wäre es mit dir und einem oder zwei Teilnehmern? Aber nichts mit mehr als vier oder fünf Leuten, und ich möchte dabei sein. Nur für alle Fälle.
Falls mich jemand braucht.«
Das war merkwürdig und ich sah mich hastig um. River
wusste nicht, wem sie trauen konnte. Sie wollte nicht riskieren dass einer von uns gegen sie arbeitete. Ich wusste nicht, ob die anderen das ebenfalls gespürt hatten, aber ich sah Reyns nachdenklichen Blick.
Einige peinliche Momente später sagte Brynne: »Dann gehe ich jetzt wohl in den Arbeitsraum ...«, und verschwand. Amy, Jess und Daniel folgten ihr.
River lächelte Solis an und hakte sich bei ihm ein. »Geh ein Stück mit uns«, sagte sie und deutete auf den Ausgang.
Er lächelte auf ihrem Weg nach draußen. »Aber gern.«
Reyn und ich blieben zurück und sahen uns an. Trotz einiger Schwert-Trainingseinheiten hatten wir noch nicht über das gesprochen, was ... nicht passiert war. Ich hatte seine Liebeserklärung zurückgewiesen und er mein Angebot, zumindest den Rest von mir zu bekommen. Er war distanziert, aber nicht wütend, ruhig und dabei nachdenklich. Ich wartete schon die ganze Zeit darauf, dass er mir Vorwürfe machen oder wieder sauer werden würde. Es hatte mich tief getroffen, von ihm als feige und noch einiges anderes bezeichnet zu werden. Es hatte mich tief getroffen, aber anstatt ihn beleidigt in den Wind zu schießen, hatte ich tatsächlich über seine Worte nachgedacht. Wir sahen das Ganze einfach aus verschiedenen Blickwinkeln. »Gehst du in einen der Arbeitsräume?« Ich bin wirklich berühmt für meine tiefschürfenden Gespräche. Aber das ist ja mittlerweile bekannt.
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, was es ein bisschen hochstehen ließ. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie seine weichen Haare mein Kinn gestreift hatten, als er ... Ich hüstelte schnell und hoffte nur, dass ich nicht knallrot geworden war. Aber da ich mich so erhitzt fühlte, als würde ich direkt neben einem Feuer stehen, hoffte ich wohl vergebens.
»Ich schätze, ich gehe dahin, wo du nicht bist«, sagte er schließlich.
Er wollte nicht gemein sein, da war ich ganz sicher. Er war einfach nur geradeheraus und ich konnte ihm wirklich keinen Vorwurf machen, dass er so empfand.
Aber natürlich machte ich ihm Vorwürfe. In einer idealen Welt könnte ich sagen oder tun, was ich wollte, und alle um mich herum würden es verstehen, meiner Meinung sein und es gäbe keine Konsequenzen. Leider hatte ich in dieser Hinsicht schon vierhundertfünfzig Jahre der Enttäuschung hinter mir und erkannte missgelaunt, dass ich vermutlich noch mindestens ein weiteres Jahrhundert enttäuscht werden würde.
»Gut, okay«, sagte ich und wünschte, mir wäre ein besserer Spruch eingefallen. Ich hob das Kinn. »Ich denke, dann gehe ich in den Stall!« Ha! Sein Reich!
Die goldenen Augen verengten sich und die Lippen wurden schmaler, aber als er sprach, war seine Stimme ganz gelassen. »Gut, dann gehe ich in einen der Arbeitsräume.«
Ich hielt mein Kinn hoch und meinen Ausdruck cool. »Vielleicht können wir nachher noch am Schwertkampf arbeiten.«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Nein, ich glaube ... das kann ich heute nicht.« Er sah so mitgenommen aus, dass es ihm eindeutig nicht darum ging, mich vor den Kopf zu stoßen. Es schien,
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